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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet
Autoren: Laabs Kowalski
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setzte mich auf die Rückbank seines roten
Opel Rekord und fuhr mit mir zum „Nordlicht“ in der Schützenstraße, das seine
Stammkneipe war. Dort führte er mich seinen Freunden vor, die in einer Ecke
Karten spielten.
             „Hört mal, was mein Kleiner sagen kann!“
             Er schaute mich an, und ich wiederholte:
„Herzflöte, ihr Luschen!“
             Papas Kartenspielerfreunde waren begeistert.
             „Wenn aus dem nicht mal ein 1a Zocker wird!“,
war die einhellige Meinung. Dann setzte sich Papa zu ihnen und stieg in das
laufende Spiel ein. Mich hatte er zuvor zum Spielen auf den Kneipenboden
gesetzt. Der Dackel eines Gastes kam und leckte über mein Gesicht. Später
tranken wir zusammen Wasser aus einer Schale, die uns der Wirt hingestellt
hatte.
     
    Nach ihrer Heirat wohnten Mama und Papa zunächst bei Omma
Zarth in einem alten Haus, das in der Bülowstraße an das Postgelände grenzte.
Auch Papas jüngere Brüder Heinzi, Bernhard und Catcher wohnten noch dort. Statt
eines Badezimmers gab es eine Toilette im Treppenhaus und den Küchenspülstein,
um sich morgens zu waschen. Gebadet wurde im Waschhaus im Hof, wo eine große
Zinkbadewanne stand, die alle Mieter benutzten.
    Mama und Papa schliefen in einem
Schrankbett. Als Mama mit mir schwanger war, klappte es eines Nachts ohne
Vorwarnung hoch, und ihr dicker Bauch wurde gequetscht. Später, als ich größer
war und wieder mal was ausgefressen hatte, sagte Papa immer: „Verdammtes
Schrankbett! Kein Wunder, dass der Junge nicht alle Datteln an der Palme hat.“
    Als ich dann auf die Welt
gekommen war, zogen Mama und Papa in eine eigene Wohnung in der
Elisabethstraße. Sonntags morgens krabbelte ich zu Papa ins Bett, und er
erzählte mir Märchen. Wie Rotkäppchen den bösen Wolf verschlang, wie Frau Holle
in einen hundertjährigen Schlaf fiel, als sie vom Tischlein Deckdich aß, und wie
Rumpelstilzchen von den sieben Zwergen eine Riesenbohne bekam, deren Stamm bis
in den Himmel hinauf wuchs, wo sich ein Schloss aus purem Gold befand. In dem
hielt ein böser Riese die Königstochter Rapunzel gefangen, die nichts anderes
als nur Kartoffelschalen zu essen bekam. Doch Rumpelstilzchen befreite
Rapunzel, und gemeinsam mit einem Flaschengeist spielten sie Skat bis an ihr
Ende.
             Als ich Jahre später die Hausmärchen der Brüder
Grimm zum ersten Mal las, war ich entsetzt. Die Brüder Grimm hatten alles
durcheinander gebracht, und statt Rumpelstilzchen hatte sich ein doofes Mädchen
namens Schneewittchen zu den sieben Zwergen verirrt. So ein Betrug!
     
    Papa arbeitete als Gebietsleiter, erst für Canada Dry,
dann für Pepsi Cola. Von ihm lernte ich, dass Coca Cola überzuckert sei und
deshalb bä-bä. Zu Mamas Kummer kündigte er, um sein eigener Chef zu sein. In
Dortmund-Wambel machte er eine Imbissbude mit angeschlossenem Büdchen auf. Auch
Mama arbeitete dort, und ich kam in die Kindertagesstätte, die auf dem Gelände
zwischen Leopold- und Kurfürstenstraße neben einem Schlachthof lag. Er befand
sich direkt hinter dem Bahnhof, und eine lange und hohe Fußgängerbrücke führte
über ihn hinweg.
             Im Kinderhort musste man einen Mittagsschlaf
machen, vorher bekam man eine Fluortablette gereicht. Viele der anderen Kinder
mochten sie nicht, und sie gaben sie mir. So nahm ich jeden Tag etwa zwanzig
von den Dingern ein. Geschadet hat meinem Körper die tägliche Fluor-Überdosis nicht.
(Oder vielleicht doch? Neulich musste ich feststellen, zwanzig Prozent meiner
Finger sind Daumen.)
    Papa stellte eine junge Frau
namens Marion ein, die Mama im Kiosk und im Imbiss zur Hand gehen sollte. Er
selbst fuhr meist zu Omma Zarth, um mit seinen Brüdern, wenn sie Mittagschicht
hatten, Karten zu spielen.
    „Herzflöte, ihr Luschen!“
    Eines Tages erklärte mir Mama, ich würde bald ein
Brüderchen bekommen. Ein Brüderchen, das war -zigmal besser als ein weiteres
Matchbox-Auto, zumal ich alle Modelle schon hatte. Jeden Morgen auf dem Weg zum
Kinderhort kaufte Mama mir eins, damit ich, wenn sie mich abgab, nicht so
fürchterlich schrie.
    Danach gefragt, welchen Namen ich
meinem Brüderchen geben wolle, sagte ich: „Stefan“, weil mein bester Freund im
Kinderhort so hieß. Aber als Papa vom Standesamt zurückkehrte, hatte er den
Namen Martin eintragen lassen. Mama regte sich fürchterlich auf. Ich zum
Beispiel hätte eigentlich Thomas heißen sollen, doch als Papa nach meiner
Geburt zum Standesamt
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