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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet
Autoren: Laabs Kowalski
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ging, hatte er sich spontan für Michael entschieden. Auch
davon war Mama nicht begeistert gewesen.
     
    Mein Brüderchen war klein, lag in seiner Wiege und
schrie. Wahrscheinlich hatte es Hunger. Mama war im Badezimmer und wusch, weil
wir noch keine Waschmaschine besaßen, Wäsche von Hand. Ich holte meine
Bongbongtüte und steckte Martin zwei Haribo in den Mund. Trotzdem schrie er
noch immer.
    Ich steckte ihm zwei weitere
Bongbongs in den Mund, doch Martin schrie weiter. Also gab ich ihm weitere zwei
und noch einmal zwei. Als die Tüte leer war, kam Mama und schrie, und ich
begriff, das kleine Brüderchen doof waren. Sie interessierten sich nicht mal
für Cowboy- und Indianerfiguren, und mit Martin im Treppenhaus fangen spielen
konnte man auch nicht. Nicht mal, was eine Herzflöte ist, wusste mein Bruder,
und wenn ich ihn mal fallen ließ, fing er sofort an zu schreien. Da war mein
Freund Ulli, der im Nebenhaus wohnte, ganz anders. Der hatte jede Menge guter
Ideen: von der Fußgängerbrücke Steine auf die unten fahrenden Autos schmeißen
zum Beispiel. Oder sich längsseits auf die S-Bahn-Gleise legen und darauf
warten, dass eine S-Bahn über einen hinwegrollt. Aber als wir das einmal
versuchten, kriegten wir Angst, als der Zug sich näherte. Wir sprangen auf und
rannten davon. Aus der Entfernung sahen wir zu, wie die S-Bahn eine
Vollbremsung machte. „Verdammtes Schrankbett!“, hätte Papa sicher gesagt, hätte
er davon erfahren.
     
    Mit Papa und Onkel Heinzi besuchte ich Onkel Catcher im
Krankenhaus in der Bethanienstraße. Er lag nur in Unterhose auf dem Bett,
hustete und rauchte Zigaretten ohne Filter. Um seinen Kopf trug er einen weißen
Verband. Beim Kartenspielen im „Nordlicht“ hatte er mit einem Mitspieler
gestritten, ihn niedergeschlagen, die Kneipe zerlegt und sich mit den
herbeigerufenen Polizisten ein kleines Scharmützel geliefert, in dessen Verlauf
er den Kürzeren zog.
             Papa packte ein Kartenspiel aus und steckte sich
eine Zigarette in den Mund. Kaum hatte er die Karten verteilt, kehrte der
Zimmergenosse von Onkel Catcher zurück. Er protestierte kurz wegen des Qualms.
Onkel Catcher stand trotz seiner Kopfschmerzen auf und würgte den Mann, bis
Onkel Heinzi sagte, nun sei es genug, Onkel Catcher solle sich auf das Spiel
konzentrieren. Der Zimmergenosse war plötzlich gesund, zog sich an und sagte,
zu Hause ginge es ihm besser.
    „Herzflöte, ihr Luschen!“
     
    In der Tierabteilung von Karstadt kaufte mir Mama einen
Wellensittich. Er war gelb und grün, und ich trug ihn in einer Papierschachtel
nach Hause. Ab und zu schüttelte ich die Schachtel, um zu sehen, ob der
Wellensittich noch da war. Mama sagte, ich solle das lassen. Zuhause legten wir
den Wellensittich auf den Wohnzimmertisch. Er schien auf dem Weg von der
Tierabteilung bis in die Elisabethstraße eingeschlafen zu sein. Auch am
nächsten Tag schlief er noch fest.
             Der nächste Wellensittich wurde von Mama nach
Hause getragen. Ich ließ Wasser in die Badewanne laufen und legte den Vogel
hinein. Lustlos schwamm er herum, und Wellen machte er auch keine großen. So
ein Betrug! Dann ging er mit einemmal unter. Ich nahm ihn heraus.
    Weil er nass war, trug ich ihn in
die Küche, um ihn im Ofen zu trocknen, aber Mama sagte, das wäre nicht nötig
und steckte ihn in den Käfig zurück.
    Mein Freund Ulli behauptete, es
heiße nicht Bongbongs, sondern Bomboms. Wir fragten seine Oma. Die meinte, dass
es Bömsken heiße. Sie war schon sehr alt und nicht mehr ganz richtig im Kopf.
     
    Eine Woche später besuchte ich mit Papa und Onkel Catcher
Onkel Manfred, Papas ältesten Bruder, in der Unfallklinik an der
Immermannstraße. Beim Kartenspielen im „Nordlicht“ hatte er sich mit einem Mitspieler
gezankt, ihn niedergeschlagen, die Kneipe zerlegt und beim Scharmützel mit den
herbeigerufenen Polizisten den Kürzeren gezogen.
    Auch in der Unfallklinik war der
Zimmergenosse von Onkel Manfred plötzlich gesund, nur mit dem Unterschied, dass
kurz darauf ein Chefarzt kam, der sagte, das Rauchen auf den Zimmern wäre
verboten. Der Chefarzt war dann nicht mehr gesund, und Onkel Manfred hatte
Glück und wurde noch am selben Tag entlassen.
     
    1969
     
    Nur noch wenige Wochen, dann würde ich endlich in die
Schule kommen. Ich konnte bereits einige Wörter schreiben, die mir Papa
beigebracht hatte: Pik-As, Pik-Dame, Herz, Karo, Kreuz und Skat. Außerdem noch
Lusche, Flöte und Schrankbett.
             Die Schule,
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