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So wahr uns Gott helfe

So wahr uns Gott helfe

Titel: So wahr uns Gott helfe
Autoren: Michael Connelly
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nehmen, die ganz hinten im Schrank hing. Danach fuhr ich unverzüglich in die Stadt, mit der dumpfen Befürchtung, dass gleich über mich selbst eine Art Urteil gesprochen würde. Unterwegs ging ich fieberhaft die Fälle und Mandanten durch, mit denen ich ein Jahr zuvor zu tun gehabt hatte. Soweit ich mich erinnern konnte, war nichts offen oder unerledigt geblieben. Aber vielleicht hatte jemand eine Beschwerde eingereicht, oder die Richterin hatte irgendwelchen Tratsch am Gericht aufgeschnappt und daraufhin Nachforschungen angestellt. Jedenfalls betrat ich Holders Gerichtssaal mit einem flauen Gefühl im Magen. Eine Vorladung von einem Richter verhieß normalerweise nichts Gutes. Und eine Vorladung von einer Vorsitzenden Richterin schon gar nicht.
    Der Saal war dunkel, und der Platz der Protokollführerin neben der Richterbank leer. Ich trat durch die Schranke und wollte gerade die Tür öffnen, die auf den Flur zum Richterzimmer führte, als diese von innen aufflog und Michaela Gill erschien. Die Protokollführerin war eine erfreulich anzusehende Frau, die mich ein wenig an meine Grundschullehrerin erinnerte. Sie hatte gerade den Saal betreten wollen, ohne damit zu rechnen, dass sich gleichzeitig jemand von der anderen Seite der Tür näherte. Sie erschrak heftig und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Ich nannte ihr rasch meinen Namen, bevor sie zum Alarmknopf an der Richterbank stürzen konnte. Sie atmete tief durch und ließ mich dann unverzüglich eintreten.
    Ich marschierte den Flur hinunter und traf die Richterin allein in ihrem Zimmer an, wo sie an einem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Holz arbeitete. Ihre schwarze Robe hing in der Ecke an einem Kleiderständer. Sie trug ein konservativ geschnittenes weinrotes Kostüm. Sie war gepflegt und attraktiv, Mitte fünfzig, mit einer zierlichen Figur und braunem Haar, das sie kurz und streng geschnitten trug.
    Ich war Richterin Holder noch nie persönlich begegnet, hatte aber schon einiges über sie gehört. Sie hatte zwanzig Jahre als Anklägerin gearbeitet, bevor sie von einem konservativen Gouverneur auf die Richterbank berufen worden war. Sie hatte Strafrechtsprozesse geleitet, auch ein paar richtig große, und war dafür bekannt, das höchstmögliche Strafmaß zu verhängen. Dementsprechend war sie nach ihrer ersten Amtszeit problemlos für eine zweite übernommen worden. Vier Jahre später war sie zur Vorsitzenden Richterin gewählt worden und hatte dieses Amt seitdem inne.
    »Mr. Haller, danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte sie mich. »Freut mich, dass Ihre Sekretärin Sie endlich finden konnte.«
    Ihre Stimme hatte etwas Ungehaltenes, um nicht zu sagen Herrisches.
    »Sie ist zwar nicht meine Sekretärin, Euer Ehren, aber sie hat mich gefunden. Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat.«
    »Jetzt sind Sie ja hier. Ich denke nicht, dass wir schon mal das Vergnügen hatten, oder?«
    »Nein, vermutlich nicht.«
    »Also, auch wenn ich Ihnen damit mein wahres Alter verrate, ich bin vor Gericht einmal gegen Ihren Vater angetreten. Es muss einer seiner letzten Fälle gewesen sein.«
    Ich revidierte meine Schätzung ihres Alters. Falls sie tatsächlich meinem Vater im Gerichtssaal gegenübergestanden hatte, musste sie mindestens sechzig sein.
    »Ich war nur die zweite Assistentin der Anklage, frisch von der USC und noch sehr grün hinter den Ohren. Sie wollten mir zu etwas praktischer Erfahrung verhelfen. Es war ein Mordfall, und sie ließen mich einen Zeugen übernehmen. Ich hatte mich eine Woche auf meine Befragung vorbereitet, aber Ihr Vater hat den Zeugen im Kreuzverhör in zehn Minuten nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Wir haben den Prozess zwar trotzdem gewonnen, aber es war mir eine Lehre. Seitdem bin ich auf alles gefasst.«
    Ich nickte. Ich hatte im Lauf der Jahre einige ältere Juristen kennengelernt, die ein paar Mickey-Haller-senior-Anekdoten auf Lager hatten. Ich selber konnte nur mit sehr wenigen aufwarten. Doch bevor ich die Richterin fragen konnte, bei welchem Fall sie ihm begegnet war, kam sie bereits zur Sache.
    »Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Sie herbestellt habe.«
    »Habe ich mir fast gedacht. Es hat sich eher nach etwas ziemlich Dringlichem angehört.«
    »Allerdings. Kannten Sie Jerry Vincent.«
    Dass sie die Vergangenheitsform benutzte, ließ mich stutzen.
    »Jerry? Ja, natürlich kenne ich Jerry. Was ist mit ihm?«
    »Er ist tot.«
    »Tot?«
    »Ermordet, um genau zu sein.«
    »Wann?«
    »Gestern
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