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So wahr uns Gott helfe

So wahr uns Gott helfe

Titel: So wahr uns Gott helfe
Autoren: Michael Connelly
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Nacht. Üble Geschichte.«
    Ich senkte den Blick und betrachtete das Namensschild auf ihrem Schreibtisch. Die Ehrenwerte M. T. Holder war mit Schreibschrift in die Holzhalterung mit Richterhammer, Füllfederhalter und Tintenfass graviert.
    »Wie nahe standen Sie sich?«, wollte sie wissen.
    Eine gute Frage, auf die ich keine rechte Antwort wusste. Ich hielt beim Sprechen den Blick gesenkt.
    »Wir sind in mehreren Fällen gegeneinander angetreten, als er noch bei der Staatsanwaltschaft war und ich Pflichtverteidiger. Dann haben wir uns beide etwa zur gleichen Zeit selbstständig gemacht und Ein-Mann-Kanzleien geführt. Im Lauf der Jahre haben wir auch ein paar Fälle gemeinsam übernommen, meistens Drogendelikte, und uns gegenseitig ausgeholfen, wenn mal beim anderen Not am Mann war. Gelegentlich hat er mir auch einen Fall zugeschanzt, den er selbst nicht übernehmen wollte.«
    Meine Beziehung zu Jerry Vincent war eher beruflicher Natur gewesen. Hin und wieder hatten wir im Four Green Fields einen miteinander getrunken oder waren uns im Dodger Stadium begegnet. Aber zu sagen, wir hätten uns nahegestanden, wäre übertrieben gewesen. Über das rein Berufliche hinaus wusste ich wenig über ihn. Vor einiger Zeit war mir am Gericht etwas Klatsch und Tratsch über eine Scheidung zu Ohren gekommen, ich hatte ihn jedoch nie auf dieses Thema angesprochen. Das war seine Privatangelegenheit und ging mich nichts an.
    »Sie scheinen zu vergessen, Mr. Haller, dass ich noch bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet habe, als Mr. Vincent ein junger, aufstrebender Ankläger war. Damals verlor er einen wichtigen Prozess, und von da an war sein Stern im Sinken begriffen. Deshalb hat er sich wenig später selbständig gemacht.«
    Ich blickte die Richterin schweigend an.
    »Und wenn mich nicht alles täuscht, waren Sie der Verteidiger bei besagtem Prozess«, fügte sie hinzu.
    Ich nickte.
    »Barnett Woodson. Ein Doppelmord. Ich habe einen Freispruch für ihn herausgeholt. Beim Verlassen des Gerichtssaals hat er sich bei den Medien entschuldigt, dass er mit zwei Morden ungestraft davongekommen war. Das war natürlich der blanke Zynismus. Aber er hat wohl geglaubt, es dem Staatsanwalt nochmal heimzahlen zu müssen, und hat damit Jerrys Karriere als Ankläger praktisch ruiniert.«
    »Warum hat Vincent danach trotzdem noch mit Ihnen zusammengearbeitet und Ihnen sogar Fälle zugeschanzt?«
    »Weil ich zwar seine Karriere als Ankläger beendet, aber damit gleichzeitig seine Karriere als Strafverteidiger eingeleitet habe, Euer Ehren.«
    Dabei beließ ich es, aber ihr reichte das nicht.
    »Und?«
    »Ein paar Jahre später hat er ungefähr fünfmal so viel verdient wie bei der Staatsanwaltschaft. Er hat mich angerufen und sich dafür bedankt, dass ich ihn auf den Trichter gebracht hatte.«
    Die Richterin nickte wissend.
    »Es war also eine Frage des Einkommens. Es ging ihm ums Geld.«
    Ich zuckte mit den Achseln und schwieg, als sei es mir unangenehm, im Namen eines Toten zu sprechen.
    »Was wurde aus Ihrem Mandanten?«, fragte die Richterin. »Aus dem Mörder, der ungestraft davonkam.«
    »Mit einer Verurteilung wäre er besser dran gewesen. Zwei Monate nach seinem Freispruch starb Woodson bei einer Schießerei.«
    Die Richterin nickte erneut, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, Fall erledigt durch ausgleichende Gerechtigkeit. Ich versuchte, das Gespräch wieder auf Jerry Vincent zu lenken.
    »Ich kann die Geschichte mit Jerry noch gar nicht glauben. Wissen Sie, was genau passiert ist?«
    »Das ist noch unklar. Offensichtlich wurde er gestern Nacht tot in seinem Auto aufgefunden. Im Parkhaus neben seiner Kanzlei. Jemand hat ihn erschossen. Soviel ich gehört habe, ist die Polizei noch am Tatort, und es gab bisher keine Festnahmen. Das alles weiß ich nur von einem Times -Reporter, der mich angerufen hat, um sich zu erkundigen, wie es jetzt mit Mr. Vincents Mandanten weitergeht. Insbesondere mit Walter Elliot.«
    Ich nickte. Die letzten zwölf Monate hatte ich in einer Art Vakuum existiert. Aber es war nicht so luftdicht gewesen, dass der Mordprozess gegen den Filmmogul völlig an mir vorbeigegangen wäre. Es war nur einer von mehreren aufsehenerregenden Fällen, die Vincent im Lauf der Jahre an Land gezogen hatte. Trotz des Woodson-Fiaskos hatte ihn seine Vergangenheit als Topankläger von Anfang an für eine Strafverteidigerkarriere prädestiniert. Er hatte sich nie um Mandanten bemühen müssen. Sie hatten sich immer um ihn bemüht. Und
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