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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief
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Kind? Sie sagte, das rollt immer so komisch auf den Fußballen ab, das läuft immer nur ganz vorne auf den Zehenspitzen. Wissen Sie, warum Ihr Kind das tut?, sagte ich. Weil Ihr Kind einfach besonders intelligent ist. Ihr Kind ist einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist. Das sind die, die auf Zehenspitzen durch die Welt laufen. Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können. Und das ist bei Ihrem Kind so. Ihr Kind ist ein Genie, habe ich im Halbschlaf gemurmelt. Und die Mutter hat mich angestrahlt, war wahnsinnig glücklich in dem Moment und hat auch ihr Kind so schön angelächelt, als hätte sie es neu begriffen. Und als ich weggefahren wurde, hat sie mir zugelächelt. Das war wunderschön.
    Ich glaube, mir wird langsam klar, dass jetzt wirklich ein neues Leben beginnt, und dass es da auch schöne Momente geben wird. Wenn ich nach der OP wieder aufwache, dann beginnt eben ein anderes Leben. Leben heißt dann, jeder Tag ist ein neuer Tag. Das ist dann der Tag. Und dann kommt der nächste. Und danach kommt der nächste. Diese unbedarfte, unbeschwerte Freude, die man früher hatte, die ist natürlich weg. Die kommt wahrscheinlich auch nicht wieder. Und trotzdem gibt es Momente, bei denen man sich freut. Das kleine, triviale Mettbrötchen, das ich mir zurzeit nicht selbst holen kann, ist mir gerade tausend Mal wichtiger als irgendeine Achterbahnfahrt auf irgendeiner Bühne. Dann gibt’s eben demnächst nur Mettbrötchen oder so was. Das ist die Zukunft. Die Freude am Kleinen. Mit Aino habe ich sogar schon angefangen, ein bisschen zu planen. Wenn ich wieder zu Hause bin, dann lade ich zum Beispiel alle meine behinderten Freunde ein, und wir kochen gemeinsam.Wir machen uns dann eine richtig schöne Zeit, erleben kleine Sachen und freuen uns, dass wir sie erleben. Das ist eigentlich die Hauptsache: das Große im Kleinen.
    Und ich glaube auch, dass ich noch ganz viel erzählen, lesen und denken kann. Das ist wichtig. In der Biografie von Joseph Beuys, die ich gerade lese, steht der Satz: »Alles, was nicht gebraucht wird, leidet. Alles, was statisch ist, leidet.« Das heißt, wenn ich noch denke, wenn ich noch aktiv bin, dann leide ich nicht. Selbst wenn man mich ans Kreuz nagelt, kann ich noch etwas denken, dann leide ich auch noch nicht. Und wenn ich über die Ausrangierten, die Weggesperrten nachdenke, dann leiden vielleicht auch sie nicht mehr. Das ist das Grundprinzip: Solange ich über mich und andere nachdenke, leide ich nicht. Und umgekehrt: Solange man über mich nachdenkt, leide ich nicht. Wenn man mich aber abstempelt und sagt, na ja, der liegt da rum, der ist bemitleidenswert, bin ich ein Stück Stein. Wer’s gar nicht schafft, wird Stein, so ist es, glaube ich, im Buddhismus. Aber wenn man ernsthaft anfängt, über diese Statik in der Welt nachzudenken, dann wird das Leiden produktiv, dann wird das Leiden durch meine Gedanken aktiv. Ich habe nur schreckliche Angst vor dem Moment, wo das alles aufhört: Irgendwann gehen die Gedanken ja weg, das ist Leid.

    Muss ich halt lernen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken.
     
    Ich möchte so lange wie möglich denken dürfen. Muss ich halt lernen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken.Vielleicht ist diese Krankheit ja sogar eine Belohnung. Jetzt kann ich endlich einmal Nein sagen lernen. Wenn irgendwelche Leute mir mal wieder erklären wollen, was ich jetzt tun soll, was jetzt wichtig ist, dann sage ich einfach: Tut mir leid, ich kann jetzt nicht. Ich muss denken. Auch wenn ich selbst wieder in so einen hektischen Kaffeeklatsch rutsche und rumrasen will, unter dem Motto, da müssen wir jetzt aber loslegen, und hier noch und da noch – dann sage ich mir einfach: Hör auf, sei still, es geht nicht, ich muss jetzt denken.
    Das ist die Chance, die ich jetzt bekomme. Okay, ich hätte sie lieber mit sechzig oder mit siebzig, aber eigentlich ist jeder Zeitpunkt erst einmal scheiße. Das ist ja bei jedem Menschen so. Ist ja egal wann. Mit siebzig sagt man: Warum denn mit siebzig? Ich hätte doch noch zehn Jahre wandern können oder was weiß ich. Aber wann es auch immer passiert: Wenn es passiert, muss man den Punkt erwischen, einfach zu sagen: Ich will jetzt nicht. Ich kann jetzt nicht. Ich denke heute. Und dadurch ist man weg von der Bildfläche, raus aus diesem komischen Zwangssystem. Die Leute glauben vielleicht: O Gott, der Arme, wahrscheinlich denkt
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