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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief
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so. Das ist eben diese Form von Realismus, wenn Mutter einen Bienenstich isst statt niederzuknien und mit Kerzen rumzufummeln. Oder eben wenn Aino sagt, sie geht zur Probe … Ach, ich weiß auch nicht, ich bin einfach enttäuscht, dass ich hier jetzt wieder alleine rumsitze. Aber Aino macht das auch aus Liebe. Sie will eben gerade, dass das Leben einen Funken von Normalität behält. Woher nimmt sie bloß die Kraft? Am liebsten würde ich mir eine Tablette reinknallen und einfach nur durchschlafen. Dann muss ich wieder an meinen Vater denken, wie er da in seinem Bett lag und manchmal ganz laut nach uns gerufen hat. Das war natürlich die Eifersucht, dass er da liegt, und wir sind in der Küche, essen lecker und lachen sogar. Ich bin jetzt auch eifersüchtig. Und trotzdem, man kann von keinem Menschen verlangen, sich 24 Stunden lang aufopfernd neben einen zu legen. Das sind Feierstunden für nix. Das geht eben nicht, bringt auch nix. Mitleiden geht sowieso nicht, mitbefürchten geht vielleicht. Ich kann natürlich jetzt auch Krieg spielen und sagen, ja, Leute, ich muss weiter, die nächste Front ruft, dann hoppel ich halt mit einem Bein weiter, ist egal, es geht hier um den Endsieg.
    Wie eine Trennung kommt mir das alles vor. Eine Trennung von der Normalität. Normal ist es, eine Beziehung zu haben, wo man sich sieht, gemeinsam aufsteht, frühstückt, aber sich dann auch verabschiedet: Tschüss, bis später, wir sehen uns. Das geht jetzt eben nicht mehr, diese Normalität ist verletzt, hat mich verlassen.
    Ach, Mann, ist das alles eine Kacke. So eine unendliche Kacke.

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    Sonntag, 20. Januar
    Für mich gibt es zwei Möglichkeiten. Ich muss entweder ganz abhauen und sagen: Das soll halt wachsen, das ist jetzt in mir, das gehört dazu. Der andere Weg ist: Nee, bitte, bitte, noch eine Infusion, und dann ein bisschen kotzen, und dann noch mal ein Stückchen hier raus und da raus. Und da werde ich aggressiv, denn ich kann ja nicht abhauen, ich kann vor allem vor mir selbst nicht abhauen, ich kann mich nicht wegschließen und sagen, ich wache etwas später auf, dann ist alles wieder gut.
    Ich würde gerne noch so viel machen. Die Frage ist nur, muss ich das dann mit einem Sauerstoffgerät machen, oder mit irgendwelchen Kanülen oder irgendwelchen Kacktaschen am Bauch oder so. Ich würde ja gerne sagen, egal, dann läuft die Kacke halt da unten rein, aber du kannst wenigstens von hier oben aufs Meer gucken oder so etwas.
    Aber ich finde den Hebel nicht. Finde die Glücksmomente nicht wie in Manaus, als wir den ganzen Tag eine Bootsfahrt gedreht haben, mit zig Leuten, mit Chor, Sängern und Orchester; und es begann zu regnen, es war heiß, überall Fackeln, Musik, und ich habe rumgebrüllt bis zur Erschöpfung. Nachher saß ich auf einem Plastikklappstuhl, schaute auf die Uferböschung vom Amazonas, und in der Ferne brannte ein helles Licht. Da wurde ich ganz weich, mein Vater war auch irgendwie da, alles war warm, und ich habe mich aufgelöst in der Hitze und in der Feuchtigkeit. Solche Erlebnisse sind ja unbegreiflich, für mich sind sie göttlich.
    Es gab aber eben viele Momente, wo ich das Glück nicht zugelassen habe. 47 Jahre lang habe ich wirklich viel gemacht, viele Leute kennengelernt, viele Dinge erlebt. Ich hatte liebe Freunde. Ich durfte denken, habe viele Gedanken geschenkt bekommen, viele Glücksdinge. Ich habe auch viel Scheiße gebaut und mich sicherlich auch oft falsch verhalten. Aber das Schlimme ist, dass ich die guten, die wichtigen Momente oft nicht richtig genießen konnte, dass ich nicht kapiert habe, was das gerade für ein Glück ist.
    Ich bin jetzt erschöpft. Seit zwei, drei Tagen habe ich das Gefühl, dass ich in die Knie gehe. Ich habe keinen Bock mehr.
    Sich selbst im Fallen zu begreifen … sich fallen zu lassen ist schwer.

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    Montag, 21. Januar
    Mein Problem ist, dass ich nicht genau formulieren kann, was ich in meinen Arbeiten getrieben habe, was mich in meinem Leben geritten hat. Am besten habe ich mich gefühlt, wenn die Geister in Scharen geflogen kamen; entweder haben sie meine Projekte torpediert, oder sie haben sie in höhere Gefilde geschraubt. Dann bin ich wohl einfach mitgeflogen. Ich kann das nicht erklären. Ich weiß nicht, was ich den Leuten erzählen soll. Ich weiß auch nicht, was ich mir selbst erzählen soll. Aber ich muss doch den Anlass wissen, warum ich mir wie ein Irrer Dinge ausgedacht habe. Bis jetzt konnte ich ja rumspinnen, wie ich wollte. Jetzt will
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