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So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

Titel: So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
Autoren: Juliette Gréco
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dem Gebäude erstrecken sich ein Park mit Eichen und Erlen sowie ein großer Obstgarten. Die Natur ist hier allgegenwärtig, der Herbst ist bereits im Anzug.
    Im Süden Frankreichs leben die Menschen noch für eine kurze Zeit auf einer Insel des Friedens.
    Kaum angekommen, erklärt meine Mutter das Taubenhaus zur Wohnstatt der Kinder. Diese Zuteilung ist der nächste Schlag ins Gesicht. Die Tochter von A. S., Charlotte und ich sollen im Leben unserer Mütter nicht allzu präsent sein.
    In meinem Innern rumort es. Nicht mehr lange, und ich werde brüsk mit meiner Mutter brechen: Ich habe es eilig, in mein Zimmer zu kommen, denn ich will auf meinem Bett alle viere von mir strecken und mich ganz der Faulenzerei widmen. Schließlich sind die Ferien bald vorbei. Ungestüm drehe ich am Türgriff, da steht Mutter vor mir. Was sucht sie in dem prachtvollen Taubenschlag, der ganz allein uns Kindern vorbehalten ist? Ihre Anwesenheit bedeutet nichts Gutes. Ihr Blick trifft den meinen. Ich verstehe, ich habe mir etwas zuschulden kommen lassen; zu nichts anderem bin ich ja fähig. In einer Hand hält sie mein Tagebuch. Sie hat nach ihm gesucht; unter meiner Matratze hat sie es gefunden. Ein Satz, ich stehe vor ihr und verpasse ihr zwei saftige Ohrfeigen. Mein Zorn kennt keine Grenzen. Ich hasse es, wenn jemand in meinen Sachen herumschnüffelt.
    Genau hier endet meine Kindheit. Ich verbanne das Bild einer Mutter, der ich nie nah sein durfte, aus meinem Herzen. Ich sage mich von einer Liebe los, die nie erwidert wurde.
    Sie selbst zeigt keine Reaktion; ungerührt verlässt sie mein Zimmer, zackig wie ein Militär.
    Hélène
    In Schweigen gehüllt wie gewöhnlich und mit einem Desinteresse, wie es größer nicht sein kann, beginne ich das neue Schuljahr im Collège von Bergerac. Die Zeit der Internate und des Spezialunterrichts ist vorbei: Ich bin Schülerin in einer hundsgewöhnlichen, nichtkonfessionellen Schule.
    Ich bin vierzehn Jahre alt; mein schulischer Rückstand ist enorm.
    Im Klassenzimmer sitze ich hinten, mein Blick wandert zum Fenster hinaus, in den Himmel. Um keinen Tadel zu riskieren, nehme ich mich in meiner Passivität zusammen und schaue auf die Wandtafel, die mir als Dank die Tür zu ihrem imaginären Reich öffnet.
    Meine Französischlehrerin ist eine junge Frau mit wachen blauen Mandelaugen, hinter denen sich eine scharfe Intelligenz verbirgt. Ihr Haar hat sie mit ein paar Nadeln ein wenig nach hinten gesteckt; mit einer blitzschnellen Bewegung lenkt sie die Aufmerksamkeit aller Schüler auf sich.
    Schon in der ersten Unterrichtsstunde spüre ich, dass Hélène Duc etwas Besonderes ist. Sie weckt meine Neugierde, ich wage mich aus meinem Kokon.
    Durch sie lerne ich eine andere Welt kennen.
    »Juliette, jetzt du!«
    Und mit meiner tiefen Stimme deklamiere ich Sätze aus Racines Bérénice :
    »Ach Grausamer, ist dies der Zeitpunkt, es zu offenbaren?
    Was tatet Ihr? Seht nur! Ich glaubte mich geliebt,
    vertraut war mir die Freude Eures Anblicks alle Zeit,
    ich lebte nur für Euch! War Roms Gesetz Euch unbekannt,
    als ich Euch dies zum ersten Male eingestand?
    Zu welchem Übermaß der Liebe habt Ihr mich geführt!« *
    Ihre Herzensbildung, ihre Großzügigkeit und ihr pädagogisches Talent wecken in mir die Liebe zur Sprache und zum Theater.
    Diese wunderbare Frau wird Schauspielerin werden und in vielen Theaterstücken und Filmen spielen. Ich verdanke ihr alles.
    Hélène Duc und ihre Mutter werden Freundinnen meiner Mutter. Mélilot, Steinklee, wird meine Mutter von ihnen genannt; betört uns diese Pflanze doch mit einem zarten Duft, während ihre langen, sehr dünnen Halme sich gern im Wind bewegen.
    Die äußere Erscheinung meiner Mutter hat sich nach und nach gewandelt. Vornehm ist sie natürlich geblieben, aber diese große Frau mit breiten Schultern und schmaler Hüfte trägt jetzt Reiterhosen und taillierte Jacken, auf den Kopf setzt sie sich eine Baskenmütze. Sie ist Bäuerin und Gentlewoman zur selben Zeit.
    Meine Mutter ist wirklich einzigartig – und unbequem obendrein.
    Juni 1940. Im Haus herrscht Aufruhr.
    Die deutschen Truppen marschieren in Paris ein; der »Sitzkrieg« zwischen Deutschland und Frankreich ist ein paar Monate alt. Meine Mutter hört im Salon die Sendungen mit verschlüsselten Botschaften in englischer Sprache.
    Manchmal bittet sie mich, mit dem Fahrrad morgens nach Bergerac zu fahren, um Post aufzugeben oder mit dem offenen Einspänner einen Freund zum Bahnhof zu begleiten. Mit dem
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