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So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

Titel: So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
Autoren: Juliette Gréco
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verletze eine Arterie. Mehr schlecht als recht stoppe ich mit einem Finger den Blutfluss aus der Wunde und mache mich auf den Weg zurück zum Haus. Vor dem Personaleingang falle ich erneut vom Rad, lande auf der Erde und werde ohnmächtig.
    Noch benommen vom Schmerz und meinem Ohnmachtsanfall, höre ich die Stimme meiner Mutter: »Sie spielt nur Theater!«
    Der Schmerz nur gespielt? Die Ohnmacht nur gespielt? Warum ist sie so kaltherzig zu mir?
    Der Arzt vernäht meine Wunde und sagt: »Das hätte schlimm ausgehen können, du hast Glück gehabt!«
    Die nächsten Tage verbringe ich auf einer Liege, die auf der Terrasse steht. Man hat mir äußerste Ruhe verordnet. Ich beobachte meine Mutter und ihre Freundin und erzähle mir selbst Geschichten, um den Schmerz des Alleinseins nicht zu sehr zu spüren.
    Die Wunde am Oberschenkel vernarbt. Die im Herzen nicht.
    Aber ich will wieder Spaß haben und widme mich abermals meinen kleinen Vergnügungen. Ich stibitze Schokolade und Kuchen, sobald die Hausangestellten weg sind, oder stehle und verkaufe einige von unseren Bettlaken, damit meine Schwester etwas Taschengeld hat. Sie allein versteht mich.
    Manchmal bin ich unberechenbar, manchmal bekomme ich Tobsuchtsanfälle, und manchmal mache ich etwas Unüberlegtes. Mehr als einmal habe ich das ganze Haus in Schrecken versetzt.
    Wie an jenem Spätnachmittag, als ich zum Pferdestall rase, aufs Pferd springe und ohne Sattel im Galopp quer über die Felder reite. Zwei Gendarmen finden mich mitten in der Nacht im Wald. Ich bin auf einem Baumstumpf eingeschlafen, das Pferd steht neben mir.
    Manchmal wage ich mich weiter vom Haus weg, ich folge dem Flusslauf, auf der Suche nach Kaulquappen und Fröschen. Bei der Brücke stelle ich mein Rad ab.
    Auf dem gegenüberliegenden Ufer sitzt der Korbmacher auf den Stufen seines Wohnwagens. Ich beobachte ihn. Ich habe ihn schon im Dorf gesehen. Mir ist dabei aufgefallen, wie sehr er mit den Händen redet, mit Gestik und Mimik verschafft er sich Gehör. Seine schwarzen Zigeuneraugen faszinieren mich. Ich setze mich ins Gras. Sicherlich fällt ihm auf, dass ich ihn beobachte, aber ihm ist das egal, er arbeitet weiter an seinem Weidenkorb. Ich vergesse die Zeit und bleibe lange am Ufer sitzen. Erst als die Sonne untergeht, wird mir klar, dass ich spät dran bin. Eine Strafe erwartet mich. Also pfeife ich aufs Abendessen und gehe so ins Bett. Wozu habe ich schließlich meinen geheimen Vorrat an Leckereien?

Der Krieg

Das Herrenhaus
    Der Sommer 1939 geht zu Ende, der Krieg steht unmittelbar bevor.
    Das Radio bleibt den ganzen Tag bis spät am Abend eingeschaltet. Die beiden Mütter, wie ich sie nenne, spitzen mit sorgenvoller Miene die Ohren. »Kinder, es gibt Krieg! Wir müssen unsere Heimat gegen den Feind verteidigen!«, bläuen sie uns ein.
    Am 1. September überschreiten die deutschen Truppen die polnische Grenze.
    Für ein kleines Mädchen ist der Krieg etwas Unverständliches und Abstraktes. Auch wenn die Stimme im Radio von verstärkten deutschen Angriffswellen und Menschen auf der Flucht spricht.
    Ich fühle mich unter den hundertjährigen Eichen, dem Mond und dem Sternenhimmel sicher, die unumstößliche Ordnung der Natur beschützt mich. Dennoch beschleichen mich nach und nach Zweifel. Ich wittre Gefahr.
    Mutter und ihre Freundin nehmen Menschen bei uns auf, die auf der Durchreise sind. Diese Gäste – alle sind nervös und voller Sorge – bleiben ein paar Tage, bevor sie mit dem Zug weiterfahren.
    Abends werden die Türen und die Fensterläden des Salons geschlossen. Das Licht wird angemacht, und man beginnt, sich leise zu unterhalten.
    Die beiden Frauen beschließen, nicht nach Paris zurückzukehren. Sie wollen in diesem abgelegenen Landstrich bleiben.
    Wir ziehen in ein großes Herrenhaus, das zur Gemeinde Monsac gehört, nicht weit von Bergerac.
    Um nach Marcaudie zu gelangen, wie unser neuer Wohnsitz heißt, muss man am Ende des Dorfs einen Feldweg einschlagen. Nach ein paar hundert Metern steht man vor einer Fassade mit sechs großen Fenstern und drei Dachgauben. Davor eine natürliche Terrasse, der alte Steine als Brüstung dienen. Von hier hat man einen freien Blick ins Tal der Dordogne: kilometerweit nur Felder und Wälder.
    Wenn der Morgennebel sich lichtet, erkennt man in der Ferne die kantigen Dächer, wie sie bei Bauernhöfen im Périgord üblich sind. An den Rand der Terrasse, keine hundert Meter vom Haus entfernt, hat man einen imposanten Taubenschlag errichtet.
    Hinter
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