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So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren

Titel: So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
Autoren: Juliette Gréco
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Von Zeit zu Zeit richtet er sich auf, hebt den Kopf und steckt den Bleistift hinters Ohr; er scheint zu sinnieren. Bis er wieder nach dem Stift greift, um weiterzuzeichnen.
    Überall stapeln sich Pauspapierrollen, Zeichenmappen und Pinsel. Zwei Leinen sind durch den Raum gespannt, an denen Skizzen mit Holzklammern befestigt sind.
    Ich erinnere mich an Situationen, bei denen ich mich wie ein Mäuschen nicht zeigte, Pläne und Zeichnungen heimlich betrachtete und das Risiko genoss, dabei entdeckt zu werden.
    Mein Großvater ist in einem Krankenhausbett gestorben. Am Abend zuvor haben wir ihn besucht. Er hat mir den Kopf gestreichelt und sich herzlich verabschiedet.
    Als die Sonne aufging, war er tot.
    »Großvater ist tot«, sagte Charlotte zu mir.
    Ich brachte kein Wort heraus, bewegte mich nicht von der Stelle. Dann wollte ich die Realität durch Beschwörung überlisten. Ich bin aus dem Haus gestürzt und habe mich mit den Knien auf den Kies der Allee geworfen. »So werde ich für ihn Buße tun, bis er wiederkommt.«
    Ich kniete, bis es blutete. Genützt hat es nichts.
    Ich erinnere mich an das Gefühl von Hass, das mich überfiel, als die Familie mich zwang, seinen leblosen Körper zu küssen. Ich akzeptierte seinen Tod nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte man mich verraten.
    Warum haben diese Leute mir meinen Großvater weggenommen? Ich fühlte mich allein, so allein.
    Jetzt verstehe ich, dass nach seinem Tod nichts mehr sein konnte wie vorher. Das war das Ende meiner Unschuld und der Beginn einer großen Einsamkeit und Leere, die niemand füllen konnte.
    Adieu, Kindheit
    Seit dem Tod des Großvaters sind die Tage traurig.
    Licht fällt an diesem Sommernachmittag durch die Jalousien. Die Stille ist erdrückend. Ich schaue Großmutter an, die im Sessel sitzt und ein Taschentuch stickt. Sie bemerkt mich noch nicht einmal. Sie ist nicht glücklich. Wir beide sind allein – die Hausangestellten haben heute am Sonntag frei, und meine Schwester ist auf einem Fest bei einer Klassenkameradin. Plötzlich fällt Großmutter aus dem Sessel. Ich stürze zu ihr, ihr Gesicht ist aschfahl, die Augen sind geschlossen. Wie kann ich diesen Körper wiederbeleben? Da kommt mir jenes Ritual in den Sinn, das die Großeltern jeden Monat zu ihrer Regeneration veranstaltet haben. Man setzt Blutegel hinter die Ohren, die Tiere beißen sich mit ihren spitzen Zähnen durch die Haut, pumpen sich mit Blut voll, bevor sie dann von selbst abfallen. Jetzt muss man sie nur noch in das Glas zurücklegen, aus dem man sie geholt hat, damit sie sich entleeren.
    Ich greife nach der Stickschere vom Arbeitstisch, halte sie mit meinen kleinen Fingern fest und versetze Großmutter mit einem Stoß einen Stich ins Ohrläppchen. Blut strömt heraus, sie zuckt ordentlich zusammen. Ich stehe wieder auf, renne los, jage die Treppe hinunter, um bei einem Nachbarn Hilfe zu holen.
    Als Großmutter aufwacht, ist sie nicht mehr klar bei Verstand. Dieser Vorfall hat sie für immer verändert.
    Sie ist augenscheinlich nicht mehr dieselbe, sie hat die Orientierung in ihrem Leben verloren. Großvater hat ihren Verstand mitgenommen.
    Sie versinkt im Wahnsinn, zu jeder Stunde ruft sie nach ihrem Mann. Uns erkennt sie nicht mehr, nackt wandelt sie durchs Haus. Mich als Kind schockiert das maßlos. Nie habe ich mir Großmutter nackt vorgestellt – und jetzt das, vor meinen Augen!
    Alles geht sehr schnell, unsere Mutter kommt zurück, um die Situation in den Griff zu bekommen. In dem Haus können wir Kinder nicht länger leben, und Großmutter kann nicht mehr allein sein. Meine Mutter beschließt, die Möbel zu verkaufen, die Hausangestellten zu entlassen und uns drei nach Paris mitzunehmen. Alle Fensterläden des schönen Hauses werden geschlossen.
    Heute Abend ist der Bahnhof unser trauriges Ziel. Der Zug nach Paris steht schon auf dem Bahnsteig. Langsam geht unsere Großmutter an der Seite ihrer Tochter. Ich steige mit meinem Bären unter dem Arm wortlos in den Zug und hefte mich an die Fersen von Charlotte; schließlich setze ich mich neben sie auf eine kalte Bank.
    Oursine drücke ich fest an mich. Mutter ist unsere Führerin. Wir folgen ihr. Ein neues Kapitel beginnt.
    Nach ein paar Monaten, die sehr schwierig waren, kommt Großmutter in ein Altersheim. Dort wird sie bald sterben.
    Eine einseitige Liebe
    Wir sind wieder Teil ihres Lebens. Und damit kommt unsere Mutter nicht zurecht.
    Sie kennt uns nicht. Liebevoll kann sie schon sein, aber auch ungeschickt. Wir
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