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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Vertrauensarzt von Elvira Senn. Er besuchte sie zweimal wöchentlich nach dem Frühstück, um ihren Blutzucker zu kontrollieren. Sie konnte sich zwar ohne weiteres das Insulin injizieren, aber sich selbst einen Tropfen Blut abzuzapfen, brachte sie nicht fertig. Elvira Senn konnte kein Blut sehen.
    An diesem Morgen, während sie darauf warteten, daß der Blutstropfen vom Teststreifen gewischt werden konnte, fragte Elvira Senn: »Wie alt sind Sie jetzt, Doktor?«
    »Sechsundsechzig.«
    »Wie weit können Sie sich zurückerinnern?«
    Stäubli wischte den Teststreifen ab und schob ihn in den Reflektometer. »Ich erinnere mich daran, wie unser Dackel Fritz eines Morgens mausetot auf dem Gartenweg lag. Damals muß ich etwa sechs gewesen sein.«
    »Ist es möglich, daß man sich auch weiter zurückerinnern kann?«
    »Das zentrale Nervensystem ist bei der Geburt noch nicht voll ausgebildet. Das Gedächtnis kleiner Kinder kann in den ersten beiden Lebensjahren noch gar nichts speichern. Es muß erst allmählich lernen zu lernen und das Gelernte abzurufen.«
    »Das heißt, theoretisch kann es sein, daß man sich an Erlebnisse erinnert, die man mit drei hatte?«
    »Mein jüngster Enkel ist jetzt zehn. Als er vier war, nahm ich ihn mit in ein Restaurant, das russische Woche hatte. Wer nach dem Essen einen Wodka trank, durfte nachher das Glas an eine eigens dafür vorgesehene Wand werfen. Ich mußte etwa fünf Wodkas trinken, damit der Kleine die Gläser an die Wand werfen konnte. Das hat ihm einen so großen Eindruck gemacht, daß er jedesmal davon erzählte, wenn er zu Besuch kam. So hat er diese Erinnerung über die Jahre hinübergerettet. Jetzt ist er zehn und erinnert sich noch. Und die Chancen, daß er sich noch mit achtzig daran erinnern kann, stehen gut.«
    Während er sprach, hatte Dr. Stäubli die Blutzuckerwerte notiert. Jetzt legte er ihr die Manschette des Blutdruckapparates an.
    »Und alle anderen Erinnerungen sind weg?«
    »Nicht weg. Der Zugang zu ihnen ist nicht mehr da.«
    Stäubli steckte sich die Stethoskop-Oliven in die Ohren und maß den Blutdruck. »Sie werden hundert«, sagte er und notierte sich die beiden Werte.
    »Und daß man diesen Zugang wieder findet, ist völlig ausgeschlossen?«
    »Völlig ausgeschlossen nicht. Es gibt eine Form der Hypnose, die Erinnerungen aus der frühen Kindheit wiederherstellt. ›Recovered Memories‹. In den Vereinigten Staaten werden damit unbescholtene Familienväter von ihren erwachsenen Töchtern beschuldigt, sie hätten sie als Kinder mißbraucht.«
    Dr. Stäubli packte seinen Arztkoffer. »Und manchmal kommt es auch vor, daß Menschen mit Altersdemenz, weil sie die Fähigkeit verlieren, neue Dinge zu lernen, tief in ihr Altgedächtnis dringen und an der Schwelle zu ihren frühen Kindheitserinnerungen die eine oder andere herüberlocken können.« Er gab seiner Patientin die Hand. »Je älter man wird, desto näher rückt die Vergangenheit, nicht wahr, Frau Senn? Am Freitag um die gleiche Zeit?«
    Elvira Senn nickte.
    Sie trafen sich schon am nächsten Tag zum Abendessen. Es war der Tag, an dem Konrad Lang sein Taschengeld bezogen hatte. Er konnte sich ein Restaurant leisten, das zwar nicht gerade ein In-Lokal war, aber auch nicht so verschwiegen, daß eine Einladung dorthin anzüglich gewirkt hätte.
    Konrad kam ziemlich nüchtern und hielt sich auch während des ganzen Abends gut. Rosemarie erzählte, was sie sonst nie tat, von ihrem Leben vor der Scheidung. Sie war in zweiter Ehe mit einem Chirurgen verheiratet gewesen, der beinahe zehn Jahre jünger war. Sie hatte sein Studium aus dem Vermögen ihres ersten, früh verstorbenen Mannes finanziert. Der hatte ihr die Hälfte eines Textilunternehmens hinterlassen, die sie rechtzeitig ihrem Schwager verkaufte, bevor das Unternehmen in den Siebzigerjahren Konkurs ging.
    »Röbi Fries war Ihr erster Mann?« fragte Konrad überrascht. »Wissen Sie, daß ich mit ihm aufs ›St. Pierre‹ gegangen bin?«
    »Ach, Sie sind aufs ›St. Pierre‹ gegangen? Röbi hat viel vom ›St. Pierre‹ erzählt.«
    Sie tauschten den ganzen Abend Namen aus von gemeinsamen Bekannten und von Orten, an denen sie sich schon getroffen haben mußten.
    Im Taxi sagte Rosemarie: »Wollen Sie nicht wissen, wer der Mann war, vor dem Sie mich im Blauen Kreuz gerettet haben?«
    »Ist er wichtig für Sie?«
    Rosemarie schüttelte den Kopf.
    »Dann vergessen wir ihn.«
    Rosemarie besaß ein Penthouse in einem vierstöckigen Gebäude, das direkt am See in
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