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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Marken.«
    »Soll ich ihn abschicken?«
    Konrad Lang fiel keine Antwort ein, und so ließ er sich den Umschlag abnehmen. Als der Feierabendandrang abflaute, klebte Barbara eine Marke drauf, warf sich den Mantel über und ging die paar Schritte zum Briefkasten um die Ecke. Was du heute kannst besorgen…
    Konrad hatte davon nichts mitbekommen. Bei ein paar Glas Bier dachte er über den Brief nach und kam zum Schluß: Der Brief war nicht weinerlich, er war pathetisch. Und es war eigentlich kein Brief, es war ein Appell. Appelle müssen pathetisch sein, sonst wirken sie nicht.
    Der Postbote hatte den Briefkasten längst geleert, als Konrad sich entschloß, Barbara nicht daran zu hindern, den Brief einzuwerfen. Am nächsten Morgen, als er auf seinen Entschluß hätte zurückkommen können, hatte er die ganze Sache vergessen.
    Elvira Senn saß in ihrem Frühstückszimmer im »Stöckli«. Es war noch früh am Tag, und die Stofflamellen, die das grelle Morgenlicht schmeichelhaft milchig machten, waren noch halb geschlossen. Frau Senn trank frischgepreßten Orangensaft und versuchte, den Brief, der geöffnet zuoberst auf dem Stapel Post neben dem Telefon lag, zu vergessen.
    Sie trank ihr Glas aus. Daß der Brief eine Frechheit war, beschäftigte sie nicht weiter. Es war nicht die erste Frechheit, die sich Konrad Lang leistete. Was sie beunruhigte, waren die detaillierten Erinnerungen: Der Gärtner hatte tatsächlich Buchli geheißen, und – was viel schlimmer war – er war gestorben, als Koni noch keine sechs Jahre alt war. Tomi hatte wirklich immer auf der blauen Kugel bestanden, und Koni, dessen Lieblingsfarbe ebenfalls Blau gewesen war, hatte sich immer klaglos mit der roten abgefunden. Was sie am meisten irritierte, waren die Flecken auf dem weißen Leinenkleid. Als sie mit Anna, Tomi und Koni Krocket spielte, besaß sie es bereits nicht mehr. Sie hatte es weggeben müssen, weil es tatsächlich voller Kirschenflecken war. Aber es war nicht Tomi gewesen, der sie gemacht hatte. Die Vorstellung, daß das Gedächtnis des alten Säufers so weit zurückreichte, machte ihr angst.
    Es gab nicht viel im Leben von Elvira Senn, was sie bereute. Aber daß sie damals, an jenem warmen Sonntag im Mai 1943, einem gewissen Bauern nicht eine Abfindung bezahlt und Konrad mit ihm ins Emmental zurückgeschickt hatte, das konnte sie sich bis heute nicht verzeihen.
    Es war der erste Tag gewesen, an dem man draußen essen konnte. Die ganz frühen Rhododendren blühten. Sie saß mit Thomas unter der gestreiften Markise der großen Sonnenterrasse, die auch vom Park her zugänglich war, und trank Kaffee, selbst für Elvira Senn in diesen Kriegsjahren keine Alltäglichkeit.
    Eines der Dienstmädchen meldete Besuch an, einen Mann mit einem Jungen – ein Freund, habe er gesagt, eine Überraschung. Elvira wurde neugierig und ließ bitten.
    Sie beobachtete die beiden, wie sie näher kamen. Ein bäurischer Mann mit einem Jungen, der ein kleines Köfferchen trug. Plötzlich stand Thomas vom Tisch auf und rannte den beiden entgegen. Da ahnte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte.
    »Koni! Koni!« rief Thomas.
    Der Junge antwortete: »Sali, Tomi.«
    Elvira wußte nicht, daß Konrad in der Schweiz war. Sie hatte ihn zum letzten Mal vor fünf Jahren in Dover gesehen, kurz vor Kriegsausbruch, am Tag, als sie mit Thomas zurückgereist und Anna mit Konrad in London geblieben war, wegen ihrem deutschen Diplomaten. Sie hatten sich noch ab und zu geschrieben, es war eine Hochzeitsanzeige aus London und eine Postkarte aus Paris gekommen. Dann hatte sie nichts mehr gehört.
    Jetzt erzählte ihr dieser Bauer in seinem schwer verständlichen Dialekt, daß Anna Lang mit Konrad kurz nach ihr ebenfalls in die Schweiz gereist war und den damals Sechsjährigen bei ihm untergebracht hatte. Jeden Monat seien von einer Schweizer Bank hundertfünfzig Franken überwiesen worden, bis vor drei Monaten. Dann sei nichts mehr gekommen. Nümmi .
    Er könne den Buben nicht durchfüttern, sagte er. Er heiße Zellweger, nicht Pestalozzi. Jetzt habe er gedacht, vielleicht könne sie helfen. Sie sei ja scheint’s eine Tante vom Koni. Geld, fügte er hinzu und schaute sich um, sei offenbar vorhanden.
    Wenn Thomas sie nicht so bedrängt hätte: »Bitte, Mama, darf Koni bleiben, bitte, bitte?« – sie hätte zumindest auf etwas Bedenkzeit bestanden. Aber Thomas war so glücklich und Konrad so gottergeben und der Bauer so unangenehm, daß sie, was selten vorkam, etwas Unüberlegtes
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