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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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in denen er sich bewegte, so konnte er sie doch immer wieder einmal beeindrucken mit ein paar virtuosen einhändigen oder parallelen Läufen, spät nachts in einer Pianobar, wo ihn der Pianist noch nicht kannte.
    Thomas Koch hingegen entwickelte sich zu einem uninspirierten, leidlichen Klavierspieler.
    Das Taxi hielt vor dem Rosenhof. Konrad hatte beschlossen, daß er nicht in der Verfassung war, allein in seiner Wohnung auf dem trockenen zu sitzen. Er bezahlte und gab dem Fahrer seine letzten Münzen als Trinkgeld. Fr. 1.20, ein Betrag, für den er sich etwas schämte. Wie alle, die auf die Großzügigkeit anderer Leute angewiesen sind, haßte er Knauserigkeit.
    Er ging die drei Stufen zum Eingang des Rosenhofs hinauf. Als er die schweren, plastikgesäumten Decken des Windfangs teilte, schlugen ihm der Geruch aus Rauch, Bierdunst und Fritieröl entgegen und das bedächtige Stimmengewirr der Männer, die sich zwischen Arbeit und Freizeit eine halbe Stunde Freiheit stahlen. Er hängte seinen Mantel an die überladene Garderobe, legte seinen Hut auf die leere Hutablage und ging zum Stammtisch.
    Die Männer rückten zusammen. Einer stand auf und holte ihm einen Stuhl. Konrad Lang war eine Respektsperson im Rosenhof. Der einzige, der immer eine Krawatte trug, der einzige, der fünf Sprachen sprach (plus Griechischkenntnisse), der einzige, der aufstand, wenn eine Frau an den Tisch kam, was nicht oft vorkam. Koni war elegant, gebildet, besaß perfekte Manieren und machte trotzdem keinen steifen Hals, wie man im Rosenhof sagte. Es fiel ihm kein Zacken aus der Krone, wenn er mit Drehern, Rangierarbeitern, Straßenfegern, Lageristen und Arbeitslosen Bier trank und kalte Fleischküchlein aß.
    Die ersten paar Mal, als Konrad Lang im Rosenhof auftauchte, wurde er von den Gästen geschnitten. Aber je mehr von seiner Lebensgeschichte durchsickerte, desto mehr behandelten sie ihn als ihresgleichen. Viele, die hier verkehrten, waren Arbeiter der nahen Montagehalle 3 der Koch-Werke oder von der Schließung des Gasturbinenbereichs betroffen.
    Dabei war es nicht so, daß Koni sich beklagte. Wenn er halbwegs nüchtern war, ließ er sich kein böses Wort über die Kochs entlocken. Und wenn er betrunken war, brach er jeden Satz ab und legte den Finger auf die Lippen – psst! Ob aus Diskretion oder weil er nicht mehr sprechen konnte, war nicht genau zu sagen. Zwischen diesen beiden Stadien gab es jedoch auch Phasen, in denen er auspackte.
    Konrad Lang war das uneheliche Kind eines Dienstmädchens der Kochs. Als der alte Koch starb, kümmerte sie sich um seine junge Witwe, die Stiefmutter von Thomas Koch. Die beiden wurden Freundinnen. Sie reisten in der Welt herum, London, Kairo, New York, Nizza, Lissabon, bis kurz vor Kriegsbeginn. Thomas’ Stiefmutter fuhr in die Schweiz zurück, Konis Mutter blieb in London; sie hatte sich in einen deutschen Diplomaten verliebt, dem sie Koni verschwieg.
    »Wie verschwieg?« hatte einer am Stammtisch gefragt, als Koni die Geschichte zum ersten Mal erzählte.
    »Die ist mit mir in die Schweiz gereist, hat mich im Emmental bei einem Bauern deponiert und ward nie mehr gesehen.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Sechs!«
    »Sauerei.«
    »Fünf Jahre mußte ich bei dem Bauern arbeiten. Hart. Ihr wißt ja, wie die sind im Emmental.«
    Ein paar nickten.
    »Und als kein Geld mehr kam aus Deutschland, hat der Bauer den Namen von Elvira aus mir rausgeholt. Er ist mit mir zu ihr gereist, um bei ihr abzukassieren. Die wußte von nichts und nahm mich auf.«
    »Das war doch anständig.«
    »Von da an bin ich praktisch als Bruder von Thomas Koch aufgewachsen.«
    »Und warum sitzt du jetzt hier und läßt bei Barbara anschreiben?«
    »Das frage ich mich auch.«
    Konrad Lang war für die Stammgäste des Rosenhofs der einzige direkte Zugang zur Welt der oberen Zehntausend. Was er aus dieser zu berichten hatte, bestätigte ihre Meinung.
    Es gab noch einen anderen Grund für Konrad Langs besonderen Status im Rosenhof: seine Beziehung zu Barbara, der Serviertochter. Er war der einzige Gast, der bei ihr anschreiben lassen durfte. Offiziell stand er bei ihr mit etwas über tausendsechshundert Franken in der Kreide. Wenn sie abzog, was sie nicht getippt hatte, waren es immer noch fast siebenhundert Franken. Montags, wenn er sein Taschengeld bekommen hatte, gab er ihr manchmal fünfzig oder hundert Franken zurück. Aber in letzter Zeit trank er mehr, und die Rückzahlungen wurden seltener.
    Barbara wunderte sich selbst über ihre
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