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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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die Angst wurde, desto mehr war ich fähig, sie zu durchschauen. Jetzt, da das Schlimmste eingetreten war – wir waren mitten imNirgendwo gestrandet, an einem glühend heißen Tag, ohne Wasser und wussten nicht, wohin –, fühlte ich mich auf selt-same Weise von etwas getröstet, das ich noch nie zuvor empfunden hatte. Meine Schultern entspannten sich. Wir fingen an zu kichern und erkannten schließlich, dass dieses Gefühl genau das war, wonach wir gesucht hatten. Wir hatten wirkliche Freiheit gefunden, und zum ersten Mal in unserem kurzen Leben wurde uns klar, was das Wort eigentlich bedeutet. Frei von Verantwortung zu sein, vor allem aber ohne jeglichen Plan, wo sich eigentlich bereits eine Berufsvorstellung abzeichnen sollte, frei von Erwartungen an das Leben, das wir einmal führen, und an die Menschen, die wir einmal werden sollten.
    Schließlich kamen wir an eine Hauptstraße und versuchten weniger verbissen, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Wir bogen uns vor Lachen und beschlossen, die Methode anzuwenden, die John Cusack in dem Film Der Volltreffer benutzt. In einer Szene geht die Hauptfigur auf die Knie und fleht die Autos buchstäblich an anzuhalten. Henry sagte, ich sei verrückt, doch als wir uns beide hinknieten, hielt sofort ein Auto an, und wir waren wieder unterwegs. Das ramponierte Gefährt war klein, und die Innenausstattung verschlissen. Ich saß vorne und unterhielt mich kurz mit dem Fahrer, der vermutlich nur ein paar Jahre älter war als wir, er sagte, das Auto sei Baujahr 1975 – also genau so alt wie ich.
    Die Gedanken und Empfindungen, die mir im Liegewagen durch den Kopf gingen, waren viel realer als die Fotos, die ich damals machte. Sie zeigen einen etwas absonderlichen dünnen jungen Mann, der seine Sonnenbrille zurückgeschoben hat und an den Nägeln kaut, aber ich erinnere mich an einen jugendlichen T. E. Lawrence, der sich selbst überwindet und ein neues Ventil für seine Neugier und Abenteuerlustentdeckt. Ich sehe mir niemals Fotos an, wenn ich mich an eine Reise erinnern will. Das Wichtigste an jedem Trip – wie man sich gefühlt und was man gelernt hat – scheint sich erst Jahre später in der Erinnerung zu manifestieren. Wenn es wirklich wichtig war, wird man sich daran erinnern. Man versteht vielleicht nicht, warum die eine Sache, an die man sich erinnern kann, so wertvoll ist, weil sie einem damals unwesentlich erschien, doch letztlich wird man sich darüber klar werden.
    Das ist auch der Grund dafür, warum es so ermüdend ist, sich anderer Leute Reisebilder anzusehen. All das, was sie vor sich sehen, die Erlebnisse, die sie einem so begeistert vermitteln wollen, finden sich nicht auf ihren Fotos wieder. Fotografien zerstören den Bann, der im Geist gedeiht und sich wandelt, während man älter wird und die Erinnerungen sich verändern. Diese Momente in einen Rahmen pressen zu wollen ist, als wolle man eine Parkbank in einen Baum zurückverwandeln. Wenn man Glück hat oder ein Fotograf ist, wird ein solches Bild vielleicht selbst zu einem Kunstwerk, wegen des Lichts oder der Komposition, aber es enthält nichts von der Magie, die der Augenblick an sich hatte, als er real war.

    Einige Stunden später erreichte der Zug den Bahnhof Chamartín in Madrid. Wir hatten zwei Stunden Verspätung und es bestand eine gewisse Gefahr, dass ich meinen Anschluss nach Málaga verpassen würde. Ich achte gewöhnlich darauf, Verspätungen einzuplanen, wenn ich einen Anschlusszug buche – Nachtzüge sind in Italien und Spanien oft unpünktlich –, doch dies war eine kurzfristige Dienstreise, zu der ich mehr oder weniger gedrängt worden war. Ich bin der Geschäftsführer und Mitbegründer einer Website namens unbound.co.uk , und ich fuhr nach Marbella, um einen potenziellen Investor zu treffen. Die beiden anderen Gründer würden auch zu dem Meeting kommen, aber sie hatten ein Flugzeug genommen.
    Ich brauchte ein paar Minuten, um eine iPhone-App zu konsultieren, die ich mir heruntergeladen hatte, um mich im U-Bahn-Netz zurechtzufinden, und mit deren Hilfe es mir gelang, den richtigen Fahrschein zu kaufen und die richtige Bahn zu nehmen. Die Madrider U-Bahn, wie auch die Pariser Métro, kommt einem im Vergleich mit der Londoner unglaublich wackelig vor, mit großen, geräumigen Waggons und kleinen silbernen Griffen, mit denen die quietschenden Türen aufgerissen werden. Ich musste 16 Stationen weit fahren, bis zur Haltestelle Atocha Renfe, und vergnügte mich unterwegs damit, mir
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