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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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die Veränderungen der Landschaft, Architektur, Sprache, Mimik, Musik, Umgangsformen und Mode, die ich während meiner Reise durch das Herz Europas wahrgenommen hatte. Ich war unglaublichen Menschen begegnet, undviele von ihnen hatten dem verzweifelten jungen Mann aus London geholfen, dessen Reisepläne wegen der IRA geplatzt waren. Ich hatte Pendler in Belgien, Deutschland und Polen gesehen und mich darüber gewundert, wie die Arbeit unser Leben genormt hat. Ich war voller Fragen und ungewohnter Gedanken und Gefühle. Ich stand die ganze Zeit leicht neben mir. Als ich endlich am Warschauer Bahnhof ankam, erschrak ich beim Anblick des riesigen und einschüchternden Sowjetbaus, der mich zu erschlagen drohte, doch meine Reise kam auf andere Art zu einem jähen Ende – mit einer überteuerten Taxifahrt zu meinem Vier-Sterne-Hotel. Obwohl ich in Warschau war, wirkten das Taxi und das Hotel-zimmer beruhigend, aber auf eine völlig falsche Weise. Der vertraute Komfort stieß mich ab. Ich sehnte mich wieder danach, unterwegs zu sein, mich anders zu fühlen und einen anderen Teil meines »Ichs« kennenzulernen.
    Paul Theroux sagte kürzlich in einem Interview mit dem Guardian , man solle am besten alleine reisen. Es gibt sicherlich keine besseren Reisebegleiter als die unausweichlichen Gedanken und Empfindungen der eigenen Seele. Wenn man mit einem Freund oder einer Freundin reist, hindert seine oder ihre Präsenz einen daran zu bemerken, wie sich der Geist in sich selbst versenkt, wenn man völlig allein an einem unbekannten Ort ist. Wenn man alleine reist, löst sich die eigene Identität auf, besonders wenn man langsam reist und lange unterwegs ist. Man spricht sehr wenig, was an sich schon ziemlich meditativ ist. Dem Geist steht es frei, in oft vernachlässigte Bereiche des eigenen Ichs zu schweifen. Das kann zunächst beunruhigend sein, doch schon bald fühlt sich der Verzicht äußerst angenehm an.
    In der Bar in Warschau sah ich meine Freunde auf einmal mit anderen Augen. Ihre kurze Bewegung über den Globus hatte sie kein bisschen verändert. Sie unterhielten sich überdieselben Dinge, über die wir auch zu Hause reden: Musik, Politik, alte Freunde, Probleme auf der Arbeit und Neuigkeiten aus den Nachrichten. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie von anderen Gedanken oder Vorstellungen beeinflusst worden waren. Ihre Reise war ein probates Mittel zum Zweck gewesen. Eine Unannehmlichkeit, die ertragen werden musste, um zur Hochzeit und wieder nach Hause zu kommen. Ihre Leben waren davon so gut wie gar nicht unterbrochen worden.
    Bei mir verhielt es sich anders. Mir gingen tausend Dinge durch den Kopf. Ich bewegte mich durch Bereiche meines Ichs, die ich gewöhnlich nicht bemerke, weil ich zu beschäftigt bin. Ich fühlte mich, als würde ich nie wieder derselbe sein. Kein Teil von mir war mehr in London. Ich war ganz und gar im Hier und Jetzt. Am nächsten Tag setzten mich einige Freunde am Bahnhof ab, damit ich meine lange Heimreise antreten konnte. Sie würden am Abend ein Flugzeug nehmen und rechtzeitig zu den Zehn-Uhr-Nachrichten zu Hause eintreffen. Ich hatte eine Fahrt von 24 Stunden vor mir. Sie sahen mich freundlich, aber leicht verdutzt an. Einer nannte mich einen Exzentriker, als wir uns verabschiedeten, aber ich war von einer nervösen Freude erfüllt. Zugleich konnte ich es kaum erwarten, wieder unterwegs zu sein. Eine Stunde später unterhielt ich mich mit einem russischen Soldaten, der in meinem Abteil saß; wie sich herausstellte, hatte er seinen Posten verlassen und war auf der Flucht. Während ich mit ihm sprach, stellte ich mir vor, wie sich meine Freunde in 10 700 Meter Höhe Wiederholungen amerikanischer TV-Shows ansahen, und ich wusste, dass ich nie wieder auf diese Weise reisen würde.

    Am Bahnhof von Málaga nahm ich die Bahn zum Flughafen, wo ich mich mit meinen beiden Freunden und Geschäftspartnern Justin Pollard und John Mitchinson treffen sollte, die am Morgen zu unserem Meeting eingeflogen waren. Ich war zu früh da, und es war bereits sehr heiß. Vor dem Flughafen standen Reihen von glänzend weißen Bussen und warteten auf die Urlauber, die von hektischen Angestellten in hellen Uniformen eingesammelt wurden. Die Touristen sahen beklommen aus, sie entspannten sich erst auf dem kurzen Weg von der klimatisierten Flughafenhalle zu den klimatisierten Bussen, als sie einen ersten Blick auf das werfen konnten, wofür sie gekommen waren – die Sonne. John und Justin kamen heraus, beide
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