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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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erhalten und sauber. Die Betten waren noch nicht gemacht worden, und ich hatte den Eindruck, dass wir drei den Zugbegleiter herbeisehnten, damit er unsere Sitze wegklappte. Er kam, kurz bevor der Zug Paris verließ. Wir gingen auf den Gang hinaus, und etwas weiter hinten konnte ich die vertrauten Stimmen junger Amerikaner ausmachen. Über die Jahre habe ich viele junge Amerikaner in Nachtzügen gesehen, aber nur wenige junge Briten. Als unsere Betten fertig waren – mollige grüne Decken, die über weißen Laken festgesteckt waren, eine Flasche Wasser und ein Gratis-Kulturbeutel –, tauchte ein Franzose Ende sechzig auf und betrachtete mürrisch sein Ticket und das dazugehörige oberste Bett. Bei der Buchung kann man festlegen, ob man ein oberes oder unteres Bett bekommt, und unten hat man immer mehr Bewegungsfreiheit. Wir mussten alle drei mit anpacken, um seinen riesigen Koffer auf sein Bett zustemmen, woraufhin er sofort wieder hinaus auf den Bahnsteig ging, ein Päckchen Zigaretten schwenkend. Wir bekamen ihn erst am nächsten Morgen wieder zu Gesicht.
    Am nächsten Tag wachte ich um sechs Uhr auf, die beiden anderen schliefen noch in ihren Kojen, der eine zu meiner Linken, der andere über mir. Der Zug zuckelte voran und machte das klackende Geräusch, das mich sieben Stunden zuvor in den Schlaf gelullt hatte, als wir durch Frankreich fuhren. Unter anderen Umständen wäre einem das Abteil selbst für eine Gefängniszelle klein vorgekommen, doch der enge Raum ließ meine Gedanken wandern. Während wir dahinratterten, lag ich da und dachte an 20 Jahre langsames Reisen zurück. Ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Nachtzügen ich mittlerweile gefahren bin, aber ich kann mich lebhaft an das erste Mal erinnern: 14 Stunden von Venedig nach Prag im Jahr 1994.
    Ich machte mit meinem Freund Henry einen Interrail-Trip, und wir verbrachten die Nacht zusammengekauert auf dem Gang und streckten abwechselnd die Beine durch die offene Tür einer undichten Toilette. Wir waren einen Monat lang durch Europa gereist, waren durch Frankreich, Italien, die Tschechische Republik und Holland getrampt und hatten Florenz, Prag und Amsterdam gesehen. Damals hatte es eher einen praktischen Grund, dass wir den Nachtzug nahmen – so konnte man in einem anderen Land aufwachen, ohne dass man ein Bett für die Nacht bezahlen musste. Wir hatten sehr wenig Geld und so gut wie keinen Plan, außer ein paar Sehenswürdigkeiten abzuhaken. Eine Sache war mir jedoch ganz klar: Ich wusste, wenn ich nach Hause kam, würde ich nicht mehr derselbe sein.
    Da ich in meiner Koje im Elipsos keine Fotos zur Hand hatte, ließ ich stattdessen die mentalen Videoclips dieser ersten Reise an meinem inneren Auge vorbeiziehen. EineSequenz wird dabei immer zuerst abgerufen. Wir befanden uns auf einer Landstraße irgendwo südlich von Lyon. Es war noch früh am Morgen und bereits ziemlich heiß. Der Campingplatz, zu dem wir wollten, lag 15 Kilometer entfernt. Unsere Rucksäcke waren schwer, weil wir planlos alles Mögliche eingepackt hatten, von dem wir glaubten, wir würden es brauchen. Wir trampten mit ein paar Francs in der Tasche und einer Straßenkarte, die sich als vollkommen nutzlos erwies, und hatten keinen Plan B, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Damals waren Mobiltelefone noch schwerer als ein Ziegelstein, und man sah sie nur bei Bankern mit roten Hosenträgern, wir waren also ganz allein und auf uns gestellt. Der Asphalt war staubig, die Erde verbrannt von der Hitze eines frühen Septembertags. Wir hatten Wasser dabei, aber mir war klar, dass es nicht lange reichen würde. Ohne Eltern und von leichtem Heimweh geplagt, benahm ich mich zwanghaft vernünftig. Ich glaube, Henry fühlte sich genauso. Wir schmierten uns fieberhaft Sonnencreme auf den Nacken und trotteten schweigend voran. Ich erinnere mich, dass ich von panischer Angst übermannt wurde, während wir dem Unbekannten ins Auge blickten. Jedes Mal, wenn etwas nicht unseren grandiosen Erwartungen entsprach, fürchteten wir, dass wir aufgeben und früher als geplant nach Hause fahren müssten.
    Wir kamen an eine Straßenkreuzung und überlegten, welche Richtung wir einschlagen sollten. Wir setzten uns auf unsere Rucksäcke und tranken das wenige Wasser aus, das noch übrig war. Ich drehte mir eine Zigarette. Weit und breit war kein Auto zu sehen, das uns hätte mitnehmen können. Wir dösten eine Weile im Schatten, dann erfasste uns Panik, weil wir kein Wasser mehr hatten. Doch je stärker
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