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Slide - Durch die Augen eines Mörders

Slide - Durch die Augen eines Mörders

Titel: Slide - Durch die Augen eines Mörders
Autoren: Jill Hathaway
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noch ein paar Tage aufzuschieben. Aber ich kann es ebenso gut heute erzählen.
    »Okay.«
    Ich überlege eine Minute und suche nach den richtigen Worten.
    »Ich erzähle dir jetzt etwas über mich, das total irre klingen muss.«
    Er nickt ermutigend. »Nur zu.«
    »Du weißt doch, dass ich immer aufpasse, damit ich keine fremden Sachen berühre.«
    »Du meinst deine Zwangsstörung?«, fragt er lachend. »Ja, die kenne ich.«
    »Es ist keine Zwangsstörung, Rollins. Und auch keine Narkolepsie. Es ist etwas anderes. Etwas, das ich nicht verstehe. Was mit mir geschieht, wenn ich ohnmächtig werde, ist nicht richtig. Ich habe es meinem Vater erzählt, als es anfing, und er hat mich zu einer Psychotherapeutin geschickt. Seitdem erzähle ich niemandem mehr davon, obwohl es immer noch passiert.«
    »Was passiert?«, fragt er sanft.
    Ich wage den Schritt. »Ich verlasse meinen Körper. Ich wandere in den Kopf anderer Leute. Ich sehe, was sie sehen.«
    Ich halte inne und suche in seinen Augen nach dem Blick, mit dem mich mein Vater angesehen hat, einer Mischung aus Angst und Ungläubigkeit. Aber Rollins wirkt aufrichtig besorgt.
    »Was siehst du denn?«
    »Kommt drauf an. Ich wandere in Mr Nast und sehe, wie er heimlich Wodka aus einem Flachmann trinkt. Ich wandere in meinen Vater und werde Zeugin einer Operation. Ich wandere in Mattie und sehe sie nachts weinen. Bei jedem Menschen ist es anders. Meist sehe ich Dinge, die ich gar nicht sehen will.«
    »Zum Beispiel?«, bohrt er nach. Er klingt nicht spöttisch, er will es ehrlich wissen.
    Also erzähle ich es ihm. Ich erzähle ihm von Amber und ihrem Plan, es Sophie heimzuzahlen, sie bloßzustellen. Ich erzähle ihm, dass Mr Golden eine Affäre mit Ambers Mutter hatte. Von ihr muss er auch von dem Messer in Sophies Hand gewusst haben. Ich erzähle ihm, dass ich Sophies Tod mit angesehen habe. Ich erzähle ihm, wie ich herausgefunden habe, dass Zanes Mutter hinter alldem steckte. Ich erzähle ihm von meinen letzten Augenblicken mit Zane.
    Rollins steht auf und setzt sich neben mich. Er legt den Arm um mich, und ich rieche die Seife, die er benutzt hat, durch das muffige Leder seiner Jacke.
    »Es tut mir so leid«, flüstert er.
    »Es geht schon«, sage ich. »Es geht schon.«
    Dann merken wir, dass uns die gelangweilten Kellnerinnen anstarren. Ich nicke ihnen zu. »Rollins, setz dich doch wieder auf die andere Seite.«
    Er drückt ein letztes Mal meinen Arm und setzt sich wieder auf die Bank gegenüber.
    Er reißt ein Zuckertütchen auf. »Also. Bist du auch mal in mich gewandert?« Er schüttet sich den Zucker in den Mund.
    Scheiße.
    Den Teil habe ich ausgelassen. Wie wird er sich fühlen, wenn er erfährt, dass ich bei ihm zu Hause gewesen bin? Dass ich von seiner Mutter weiß? Was er alles für sie tun muss?
    Als ich nicht antworte, begreift er. Vorhin war es ein Scherz, aber jetzt ist es ihm ernst. »Es stimmt also. Du bist in mich gewandert. Wann war das?«
    »Letzte Woche«, sage ich widerwillig. Plötzlich ist es sehr heiß im Café.
    »Letzte Woche? Was hast du gesehen?«
    Ich ziehe meine Jacke aus. Wie soll ich ihm auch sagen, dass ich gesehen habe, wie er seine Mutter badete?
    »Antworte mir, Vee.«
    »Ich habe euer Haus gesehen, deinen Onkel und deine Mutter. Und ich weiß, dass du deiner Mutter bei vielem helfen musst, zum Beispiel beim Baden.«
    Er ist ganz weiß. »Du hast gesehen … wie ich sie bade?«
    »Schon gut, Rollins. Ich weiß, was es heißt, für jemanden zu sorgen.«
    »Stopp. Das weißt du nicht. Du musstest deine Schwester oder deinen Vater niemals baden. Du hast keine Ahnung, wie das ist. Ich mache das jede Woche. Bin jeden einzelnen Tag für ihr Wohl verantwortlich. Ich muss sie füttern. Ich muss sie anziehen. Es gibt niemanden sonst, nur mich.«
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Es … tut mir leid, Rollins.«
    Er stützt den Kopf in die Hände. »Ich kann nicht fassen, dass du mich dabei beobachtet hast, wie ich sie bade. Ich komme mir …
vergewaltigt
vor.«
    Ich greife nach seiner Hand. »Rollins …«
    Er zieht sie weg. »Nein, lass mich in Ruhe.«
    Er steht auf und geht zur Tür. Als ich ihm nachsehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Er hat recht. Ich habe ihn vergewaltigt, irgendwie. Ich wollte es nicht, aber ich habe es getan. Menschen haben ein Recht auf ihre Geheimnisse. Die Tatsache, dass ich unfreiwillig wandere, ist keine Entschuldigung.
    Ich erinnere mich daran, wie es war, als Scotch meinen Körper gegen meinen
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