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Skalpell Nr. 5

Skalpell Nr. 5

Titel: Skalpell Nr. 5
Autoren: Michael Baden , Linda Kenney
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alt.
    Miss Crespy trat vor. Sie trug einen Rollkragenpullover unter ihrem Blazer, schicke Bluejeans und Gummistiefel von L.L. Bean, und sie erinnerte Jake an seine Lehrerin in der Grundschule, eine Frau, die er verabscheut hatte. »Die Knochen könnten schon seit Jahrzehnten in der Erde gelegen haben«, sagte sie herrisch. »Kann doch keiner mehr feststellen.«
    »Ich schon«, sagte Jake, »und Dr. Harrigan auch.«
    »Wir haben weder Eisennägel noch vermodertes Sargholz gefunden, wie das normalerweise bei Siedlergräbern der Fall ist«, erklärte Pete geduldig. Seine Stimme klang rau. »Außerdem sind diese Knochen noch relativ jung.«
    »Ich würde sagen, wir lassen Mr. King wieder an die Arbeit«, sagte der Sheriff. Er ragte neben Jake auf wie ein Aufseher über einem Sklaven.
    Als Jake nach oben schaute, sah er unverhohlene Boshaftigkeit im Gesicht des Sheriffs. »Erst wenn wir die Knochen untersucht haben«, sagte er. »Im Augenblick bergen sie noch ein Rätsel, das wir lösen müssen.«
    »Können Sie wirklich mit Sicherheit sagen, dass die Knochen neu sind?«
    »Noch nicht. Deshalb muss Dr. Harrigan –« Er brach mitten im Satz ab und zeigte auf den abgetragenen Boden, wo ein breiter Streifen von der oberen Schicht entfernt worden war. Die freigelegte Erde darunter war überwiegend dunkelbraun und fest. Aber links von der Stelle, wo man die Knochen gefunden hatte, sah die Erde zum Teil heller aus, weniger kompakt. »Pete«, sagte er, »sieh dir das an.«
    Harrigan bückte sich, wie Jake bemerkte, mit einigen Schwierigkeiten. »Mein Gott«, hauchte er.
    »Was ist denn los?«, fragte Sheriff Fisk verärgert. »Spielen wir hier ein Ratequiz? Sie verzögern das wichtigste Bauvorhaben, das es in Turner je gegeben hat, weil Sie ein paar Knochen gefunden haben, die vermutlich irgendein Köter hier verbuddelt hat. Das ist unentschuldbar.«
    Jake richtete sich auf und ging ganz bewusst nicht auf die Attacke ein. »Wenn man einen Leichnam beerdigt, verändert das die Bodenstruktur. Auch wenn die Erde danach wieder zurückgeschaufelt wird, sie ist nie wieder so wie vorher. Und selbst wenn Gras darüber gewachsen ist, bleibt der Unterschied unterhalb der Mutterbodenschicht deutlich erkennbar.« Er zeigte auf die Grenzlinie zwischen den beiden Schattierungen im Erdreich. »Da sehen Sie, bis wohin der Boden ausgehoben und wieder zurückgeschaufelt wurde.«
    »Und wen interessiert das?«, knurrte der Sheriff.
    Jake starrte ihn kühl an. » Sie wird es interessieren. Die Anzahl der Stellen, wo die Bodenstruktur verändert ist, lässt darauf schließen, dass hier nicht nur eine Leiche liegt.«

2

    E iner nach dem anderen wurden die Knochen behutsam aus der Erde geholt und auf die Plane gelegt. Jake untersuchte jeden einzelnen, ohne auf die sengende Sonne zu achten. Innerlich vibrierte er vor Aufregung. Als würde man Gottes Puzzle zusammensetzen, dachte er, und ordnete die Knochen ihrer ursprünglichen anatomischen Position zu. Es dauerte nicht lange, und er arbeitete allein. Pete machte die Hitze zu schaffen, und er war zurück zu Jakes Auto gegangen, um sich auszuruhen; den Übrigen wurde bald langweilig, und sie beschlossen, zum Frühstück in die Stadt zu fahren. Die Bauarbeiter hatte man für den Tag nach Hause geschickt. Der Vorarbeiter blieb und beobachtete ihn vom Bauwagen aus.
    Jake war erleichtert. Der menschliche Körper war für ihn ein Wunder, und seine Bausteine, die Knochen, faszinierten ihn bis heute. Das Geschöpf Mensch war schöner als die erhabenste Musik. Manchmal, so auch jetzt, hatte er das Gefühl, dass das Schweigen dieser stummen Knochen beredt war; er musste nur ihre Sprache richtig verstehen. Er bildete Skelette – drei Männer und, ja, eine Frau. Was für Geschichten konnten sie erzählen? Wer hatte sie hierher gebracht und vergraben?
    Als er fertig war, ging er zurück zum Wagen und holte Pete. »Das glaubst du nicht«, sagte er zu seinem Freund. Er wusste, dass sie die Pflicht hatten, den Skeletten etwas von dem zurückzugeben, was sie verloren hatten; das waren die Lebenden den Toten schuldig. Sie mussten zum Sprachrohr dieser Menschen werden, die nicht mehr selbst für sich sprechen konnten.
    Sie gingen zusammen zurück zu den Skeletten und blickten auf sie hinab. Pete hatte nichts gesagt, seit Jake ihn geweckt hatte; jetzt wirkte er beinahe abwesend, wie gebannt von so vielen Spuren, die der Tod hinterlassen hatte.
    »Sieh mal«, sagte Jake, »der letzte Knochen, den ich gefunden habe,
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