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Sirup: Roman (German Edition)

Sirup: Roman (German Edition)

Titel: Sirup: Roman (German Edition)
Autoren: Max Barry
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sogenannter Analytiker behauptet hat, daß die Bevölkerung Chicagos strukturell für die amerikanische Gesamtpopulation mehr oder weniger repräsentativ ist. Die verschiedenen Alters-, ethnischen und Einkommensgruppen etc. sind dort angeblich in ganz ähnlichen Relationen vertreten wie in der Gesamtbevölkerung. Der Verfasser der Analyse gelangte deshalb zu der Theorie, daß ein Produkt, das sich in Chicago verkauft, auch im übrigen Land mit regem Zuspruch rechnen kann. Irgendwann nach 1972, aber schon vor vielen, vielen Jahren, haben sich dann die demographischen Verhältnisse in Chicago und im ganzen Land so verschoben, daß sie heute nicht mehr annähernd so nahe beieinanderliegen wie damals. Trotzdem gilt der Chicago-Test in den Marketingabteilungen der großen amerikanischen Unternehmen bis heute als absolutes Muß, und keiner traut sich mehr, darauf zu verzichten. Alle machen CTs.
    6 kritzelt irgendwas auf ihren Notizblock. Ich verrenke mir den Hals und sehe, daß sie Pfeile und Kästchen und Kreise und Kurven zeichnet. Ich stimme ihr insgeheim zu: Natürlich ist es viel einfacher, etwas Unbegreifliches als etwas Intelligentes zu tun, zumal die meisten Leute nicht mal den Unterschied zwischen beidem verstehen. »Klingt fabelhaft. Und international?«
    »Das kommt erst später«, sagt sie, ohne aufzublicken. Sie zeichnet ein großes spiralartiges Ding, das wie ein wild gewordener Tornado aussieht. Ich finde, daß sie jetzt ein bißchen übertreibt. »Wir haben fantastische Designleute. Entscheidend ist, daß die Dose richtig aussieht.«
    »Ganz entscheidend«, pflichte ich ihr bei.
    »Und die Kohlensäure. Wir hatten in Massachusetts gewisse Probleme mit dem Druck.«
    »Tatsächlich?« frage ich interessiert.
    6 schaut mich etwas verunsichert an und weiß offenbar nicht recht, ob sie mit mir überhaupt über die Geschichte reden darf, deshalb lächle ich sie erst mal ermutigend an. Doch das macht sie offenbar noch nervöser, daher sorge ich dafür, daß sich der ganze Ernst der Situation in meiner Physiognomie widerspiegelt. Inzwischen wirkt sie wieder ruhiger und fährt mit ihrem Gekritzel fort. »Die dortigen Abfüller haben die Dosen nämlich unter Hochdruck gesetzt. Dreitausend Leute haben angerufen und sich beschwert, daß ihr Coke in der Nase kitzelt.«
    »Wow«, sage ich, weil sie so etwas zu erwarten scheint.
    6 nickt und arbeitet dann wieder an ihrer Zeichnung. Offenbar bringt sie gerade ein paar Schraffuren an, als sie fortfährt: »Und dann kam noch der Ärger mit der explodierenden Dose hinzu.«
    Sie schaut mich kurz an, um meine Reaktion einzuschätzen. Jetzt nur nicht geschockt wirken, sage ich mir, brauche jedoch einen Augenblick, um die Fassung wiederzugewinnen. 6 begreift sofort, daß sie zu weit gegangen ist. »Ich möchte nicht, daß Sie diese Auskunft dahingehend interpretieren, daß je irgendein Konsument durch ein Coca-Cola-Produkt zu Schaden gekommen wäre«, sagt sie steif.
    »Mir liegt in der Tat nichts ferner als die völlig absurde Annahme, daß je ein Konsument durch Ihr Unternehmen zu Schaden gekommen wäre«, entgegne ich rasch. Schließlich habe ich mich während des Studiums nicht zum Vergnügen mit Haftungsfragen beschäftigt.
    6 inspiziert mich kurz. »Gut«, sagt sie dann und fährt mit dem Schraffieren fort.
    Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus und klatsche mir dann auf die böse Hand, die schon wieder begonnen hat, nach der Serviette zu suchen.
    »Hier«, sagt sie, reißt einen bettuchgroßen Bogen von ihrem Zeichenblock und hält ihn mir unter die Nase. Ich tue so, als ob ich nicht recht verstehe, daß ich das Blatt nehmen soll, und schiebe statt dessen rasch den Stuhl auf die andere Tischseite. Endlich sitze ich neben ihr. Sie wirft mir einen etwas beunruhigten Blick zu, den ich freilich kaum bemerke, weil ihr köstlicher Duft mich der Ohnmacht nahebringt. Ich schließe für eine Sekunde die Augen, um die Herrschaft über meine Sinne zurückzugewinnen. Als ich sie wieder öffne, beäugt 6 mich mißtrauisch.
    »Nur eine Visualisierungsübung«, erkläre ich.
    »Oh.« Erleichterung ergreift Besitz von ihrem Antlitz, das mich aus dieser Entfernung ungemein fasziniert. »Und wie finden Sie das hier?«
    Mit letzter Kraft muß ich meinen Blick von ihrem Gesicht ab- und dem Papier zuwenden, doch ich schaffe es irgendwie. Ich stelle überrascht fest, daß 6 tatsächlich etwas Konstruktives zustande gebracht und nicht nur irgendwelche Kritzeleien gemacht hat. Was ich
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