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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied
Autoren: Tanja Heitmann
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Sicherheit von seinem Vater wusste, dass er ihm sein Aussehen auf fast unheimliche Weise vererbt hatte.

    »Du bist ein waschechter Galbraith-Mann«, hatte Ben seinem Sohn erklärt, »gut gewachsen, aber nicht so lang, dass dich der Wind umpusten kann. Breite Schultern und Hände, die zupacken können. Nur Masse musst du noch ordentlich ansetzen. Ein Mann, der auf den Hebriden bestehen will, muss Gewicht und nicht bloß Muskeln mitbringen.«
    Gut, den letzten Punkt hatte Josh bis heute nicht erfüllt, denn obwohl er gern aß, war er mit seinen einundzwanzig Jahren zwar durchaus muskulös, aber der Fels in der Brandung, der seinem Vater vorgeschwebt sein mochte, war er bei weitem nicht. Dafür trug er das braune Haar mit dem Kastanienstich genauso kurzgeschnitten wie Benjamin auf sämtlichen Fotos. Sogar den chronischen Dreitagebart seines Vaters hatte er übernommen - wobei Benjamins wohl eher ein richtiger Seemannsbart gewesen war, der wegen seiner ausgeblichenen roten Farbe nicht sehr beeindruckend ausgesehen hatte. Bei Josh hingegen standen die Bartstoppeln, weil er oftmals schlicht zu faul zum Rasieren war.
    Vor allem war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, was ihn mit Stolz erfüllte: die gleiche schmale Form mit den vielen Ecken und Kanten, angefangen beim gemeißelt wirkenden Nasenbein, den markanten Kieferknochen und dem aufgeworfenen Venusbogen seiner Oberlippe, der dafür sorgte, das jedermann ihm zuallererst auf den Mund sah. Männern sollte man eigentlich zuerst in die Augen blicken, fand Josh. Obwohl seine dunkelbraunen Augen auch recht ansehnlich geschnitten waren, konnten sie mit seinem Mund nicht mithalten. Mrs. McLeord aus der Bäckerei hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, dem gerade einmal fünfzehn Jahre alten Josh einen Kuss aufzudrücken. Das war beim Hogmanay, dem Neujahresfest, gewesen,
als sie zu später Stunde allein in der Küche seiner Mutter aufeinandergetroffen waren.
    »Diesen Kuss nimmst du mir doch wohl nicht übel, junger Mann? Dein Mund ist einfach eine Herausforderung. Fühlt sich übrigens genauso gut an, wie es sich bei deinem Vater angefühlt hat«, hatte Mrs. McLeord ihn mit einem Blinzeln wissen lassen, ehe sie Limonade für ihren Whisky aus dem Kühlschrank geholt hatte.
    Falls sie geglaubt hatte, ihm damit seinen ersten Kuss geraubt zu haben, irrte sie sich. Denn im Frühjahr davor hatte es bereits jemand ganz anderes getan, und an Abenden wie diesen fragte Josh sich, ob auch in seinem ersten Kuss eine Verbindung zwischen ihm und seinem Vater bestand. Ob sie vielleicht von der gleichen Person geküsst worden waren?
    Nein, sosehr Josh auch grübelte, er kam nicht dahinter, ob Benjamin an dasselbe Frauengesicht dachte, wenn er »Ain’t No Sunshine« abgespielt und dabei verloren zum Fenster hinaus aufs Meer geblickt hatte.
    Vermutlich war er ohnehin besser beraten, sich selbst zu fragen, warum er seit einigen Wochen jeden Abend dieses Lied hörte. Als könnte es der Musik gelingen, eine seit Jahren unbefriedigte Sehnsucht zu mildern. Gedankenverloren schloss er die Augen und horchte in sich hinein. Dieses Jahr war etwas anders, soviel war ihm mittlerweile klar. Dieses Jahr würde seine Sehnsucht befriedigt werden, aber warum ausgerechnet jetzt?
    Weil du erwachsen geworden bist, flüsterte ihm eine singende Stimme zu. Ein Mann. Das Gewicht, von dem dein Vater gesprochen hat, meinte nicht schlichte Körpermasse, sondern Persönlichkeit. Und die ist ausgereift, Joshua Galbraith.

    Es war das Wasserglas, das auf den Steinplatten des Bodens zersprang und ihn weckte. Zumindest glaubte Josh das, als er aus dem Schlaf hochfuhr. Er war tatsächlich im Ledersessel eingenickt. Sein Rücken fühlte sich völlig verdreht an. Ein derber Fluch kam ihm über die Lippen, als er sich mit knirschenden Gelenken aufrichtete und ordentlich durchstreckte. Dabei versuchte er, nicht in die Glasscherben zu treten. Im Black House herrschte Finsternis, nur die Leuchtanzeige des Schallplattenspielers und die Restglut im Kamin spendeten etwas Licht.
    Gut, dass das Feuer so weit heruntergebrannt ist, dachte Josh. Wenn es jetzt noch lodern würde, hätte ich vor Hitze vermutlich schon Feuer gefangen.
    Das T-Shirt klebte ihm durchgeschwitzt an der Brust, so dass er es auf dem Weg zur Haustür über den Kopf zog. Frische Luft, das war es, was er dringend brauchte. Als sei er kurz vor dem Ersticken, riss er die Tür auf.
    Doch es war keine Meeresbrise, die ihm entgegenschlug, sondern eine
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