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Silbernes Mondlicht, das dich streichelt

Silbernes Mondlicht, das dich streichelt

Titel: Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
Autoren: Linda Lael Miller
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letzter Rest von
Menschlichkeit war ihm geblieben und bereitete ihm unermeßliche Qualen.
    Aidan kannte keinen Frieden mehr
seit jener Nacht, in der Lisette ihn für immer verändert hatte. Es war aber
auch möglich, daß seine Unruhe schon vorher begonnen hatte ... als ihre
abergläubische, sterbliche Mutter ihn und Maeve als kleine Kinder in ein
Zigeunerlager mitgenommen hatte, um ihnen die Zukunft voraussagen zu lassen.
    Das alte Zigeunerweib — selbst nach
zweihundert Jahren erinnerte Aidan sich noch an den Schrecken, der ihm in die
Glieder gefahren war, als er in ihr runzeliges, schlaues Gesicht geschaut hatte
— hatte wortlos seine und Maeves Hand ergriffen. Sie hatte die Handflächen nach
oben gedreht und sie angestarrt, als sähe sie unter der Haut große Geheimnisse
lauern. Und dann, ganz plötzlich, war sie vor ihnen zurückgewichen, als hätte
sie sich verbrannt.
    »Verflucht«, hatte sie geflüstert.
»Verflucht in alle Ewigkeit!«
    Die alte Frau hatte Aidan
angeblickt, obwohl ihre Worte seiner tränenüberströmten Mutter galten. »Eine
Frau wird zu ihm kommen — sucht sie nicht, denn sie ist noch nicht geboren! die
seine Rettung oder seine Verdammnis sein wird, je nachdem, wie sie sich
entscheiden.«
    Die Alte hatte den Zwillingen
goldene Anhänger geschenkt, die das Böse von ihnen fernhalten sollten, aber es
war offensichtlich, daß sie wenig Vertrauen in die Talismane setzte.
    Ein Klingeln an der Haustür riß
Aidan aus seinen Gedanken.
    Er blieb betroffen stehen. Kalte
Übelkeit stieg in ihm auf. Jemand war in seine Reichweite geraten, und er hatte
das Annähern der Person nicht einmal gespürt!
    Wieder klingelte es. Aidan fuhr sich
mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Sie war trocken, doch der Schweiß, den er
sich eingebildet hatte, war so real wie der eines ganz normalen Sterblichen.
    »Vielleicht wohnt hier niemand
mehr«, sagte eine Frauenstimme.
    Irgendwie gelang es Aidan, seine
Fassung zurückzugewinnen, und er trat ans Fenster, mit einer Bewegung, die ihn
nicht mehr Anstrengung kostete als ein Gedanke. Auf die gleiche mühelose Weise
hätte er sich auch aus seinem Versteck ins Haus begeben können, doch meist zog
er es vor, so zu tun, als seien auch ihm menschliche Grenzen gesetzt, um immer
wieder einmal zu spüren, wie es war, zu atmen und einen Herzschlag zu haben.
    Er versuchte gar nicht erst, sich
hinter dem Spitzenvorhang zu verbergen, denn die Frau und das Kind, die auf der
Veranda standen, konnten ihn nicht sehen — jedenfalls nicht bewußt. Ihr
Unterbewußtsein jedoch würde seine Anwesenheit wahrnehmen und ihnen einige
recht unheimliche Träume bescheren.
    Das Kind, ein Junge, der nicht älter
als sechs oder sieben sein konnte, trug einen schwarzen Umhang und Vampirzähne
aus Plastik. In einer Hand hielt er einen Kürbiskopf. Seine Begleiterin, die
Blue Jeans trug, einen Pullover und einen abgetragenen Stoffmantel, wirkte
elfenhaft zart mit dem kurzen, braunen Haar und den großen, dunklen Augen.
Aidan hörte sie reden, ihre Stimme klang menschlich und süß wie Musik, und er
nahm ihre Worte ganz bewußt in sich auf, um sie sich später zu wiederholen, wie
man ein Tonband ablaufen ließ.
    Vielleicht war es die andere Seite
in ihm, das Ungeheuer, das seinen Körper zwang, Gestalt anzunehmen und die Tür
zu öffnen.
    »Trick oder Geschenk«, sagte der
kleine Vampir und hob den grinsenden Kürbiskopf. In der anderen Hand hielt er
eine Taschenlampe.
    Die Frau und das Kind glühten in der
winterlichen Dunkelheit wie Engel, unsagbar schön in ihrer Unschuld, aber
Aidan spürte auch die lebensspendende Hitze, die durch ihre Adern floß. Das
Bedürfnis nach Blut ließ ihn für einen Moment schwanken, und er lehnte sich
gegen den Türrahmen.
    Diesen Augenblick wählte die Frau,
um ihn zu berühren, und im Bruchteil einer Sekunde flackerte ein Teil ihrer
Vergangenheit wie ein Film durch seinen Geist. Er sah, daß sie Wollsocken zum
Schlafen anzog, daß sie sich vor jemandem verbarg, den sie zugleich schätzte
und fürchtete, und daß sie trotz ihrer engen Beziehung zu dem Kind so einsam
war wie Aidan selbst.
    Alles in allem war sie bezaubernd
menschlich, eine Mischung aus guten und nicht so guten Charaktereigenschaften,
jemand, der während seiner relativ kurzen Existenz schon sämtliche Arten der
Trauer und der Freude kennengelernt hatte.
    Im düstersten Winkel seiner
verfluchten Seele verspürte Aidan einen Stich, ein Gefühl, das ihm noch nie
begegnet war, weder im Leben noch im Tod.
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