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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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ausgestreckt,
     auf seine Fahrkarte wartend.
    »Der Zug kam zu spät«, sagte der alte Mann.
    »Ja, das bedauern wir sehr«, sie lächelte, blond und sehr braun für Februar, »die Fahrkarte bitte.«
    »Der Zug kam zu spät«, wiederholte er, seine Hände zitterten, er nahm eine in die andere, damit sie es nicht sah.
    Die Schaffnerin nickte. »Ich habe Sie verstanden«, sagte sie laut, jede Silbe einzeln aussprechend, »ich müsste trotzdem Ihre
     Fahrkarte sehen.«
    »Das ist ein Nichtraucherabteil«, sagte er und sah hinab auf den vollen Aschenbecher.
    »Ja, ich weiß, unmöglich. Haben Sie eine Fahrkarte?«
    »Nein«, er schüttelte den Kopf, »der Zug kam zu spät.«
    »Kommen Sie«, die Schaffnerin beugte sich vor, griff nach dem Schulterriemen seiner Tasche.
    »Die ist schwer«, sagte der alte Mann und griff ebenso zu, »die gehört mir, das ist mein Eigentum.«
    »Sie kriegen sie ja gleich wieder«, die Schaffnerin lächelte, die Schaffnerin war schneller als er. »Ich muss |18| Ihre Personalien aufnehmen«, sie hängte sich den Riemen über das Schulterpolster ihrer Bahnuniform, »Ihren Ausweis haben Sie
     dabei?«
    Er fasste an seine linke Brust, tastete nach der Brieftasche, sie war da, quadratisch und fest unter dem weichen Wollstoff
     des Mantels. Die Schaffnerin schwankte, als der Zug anhielt, sie hielt sich am Gepäckgitter fest, er hätte sie gern geschubst.
    »Kommen Sie«, ihre Hand näherte sich seinem Arm, er zog ihn weg, eine Frau schob die Abteiltür auf, einen blauen Einkaufskorb
     in der einen Hand, an der anderen ein dunkelhaariges Mädchen hinter sich herziehend. Er sah auf den Boden, schmelzender Schneematsch,
     wartete, bis sie ausgestiegen waren, ehe er zur Tür ging.
    Der Himmel blau und leer, der Regen langsamer als der Regionalexpress, er sah sehr deutlich seine Atemwolke und hinter der
     Atemwolke Fahrgäste, die alle in eine Richtung gingen, eilig, auf der glattgetretenen Schneeschicht Halt suchend, die Schultern
     hochgezogen. Nur er blieb stehen, und die Fototasche berührte seinen Handrücken und hing an der Schulter der Schaffnerin.
    Die Schaffnerin begann zu winken.
    »Hier«, rief sie, ein Mann im Gedränge reagierte, er trug eine Bahnuniform, er kam auf sie zu. Der alte Mann berührte mit
     der Hand das feste Quadrat unter dem Wollstoff, sie war noch da, in der Innentasche, er war ein Mensch mit Personalausweis
     und Rechten, versichert und ohne Schulden, er war pensioniert, er war Polizeibeamter. Er kannte das alles. Er hatte eine Uniform |19| getragen, eine richtige, keine blau-rote Bahnuniform. Er hatte Menschen am Arm genommen und neben sich hergeschoben. Er hatte
     sich Personalausweise zeigen lassen und »Kommen Sie« gesagt. Er kannte das alles. Er hatte seinen Abschied freiwillig eingereicht,
     die Dienststelle erklärte in seiner Entlassungsurkunde ihr Bedauern. Er kannte sein eigenes Widerstreben, wusste, wie es für
     den Schaffner aussah, der rasch auf sie zukam. Er kannte die schleppenden Schritte, das zurückstrebende Gewicht der Frau,
     um deren Oberarm die Hand des Schaffners lag. Die Frau war klein und stämmig, der Schaffner hatte Mühe, sie hinter sich herzuziehen.
    »Sie hat weder Papiere noch Geld, sagt sie«, rief er ihnen entgegen.
    Plötzlich stemmte die Frau ihre weißen Turnschuhe in den vereisten Untergrund, warf sich nach hinten, riss den Arm hoch, einen
     Moment lang war nur noch beiger Jackenärmel zwischen den Schaffnerfingern.
    »Hiergeblieben«, der Schaffner packte ihren anderen Arm, ihren Kopf, drückte ihn auf ihre Brust, in den Pelzkragen ihrer Jacke,
     eine blaue Tasche flog durch die Luft.
    Die Frau gab auf. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar zerzaust, sprödes quittengelbes Haar mit dunklem Streifen am Ansatz.
    »Alles geraubt«, sagte sie außer Atem, »alles weggenommen«, sie schüttelte den Kopf, die breiten Lippen zusammengepresst.
    Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie hob die blaue Tasche auf und drückte sie mit beiden Händen vor |20| ihren Bauch, auf die Tasche war ein goldener Anker genäht.
    »Wie heißen Sie?«, fragte die Schaffnerin und lächelte nicht.
    »Potulski. Jana Potulski.«
    »Können Sie sich ausweisen?«
    »Nein, ich sage doch, alles geraubt«, die Frau seufzte, ihre dunklen Augen musterten das adrette Blau-Rot der Bahnuniform.
    »Und der?«, der Schaffner sah fragend die Schaffnerin an.
    »Keine Fahrkarte«, antwortete sie.
    »Kommen Sie, junger Mann.«
    Er fühlte, wie sich die Schaffnerhand um seinen
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