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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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Tasche, stieg vorsichtig über den grauen Schneewall
     zwischen Bürgersteig und Fahrbahn und klopfte an das Seitenfenster. Der Fahrer stieg nicht aus, der Fahrer öffnete die Beifahrertür
     von innen, »immer rein, immer rein«, sagte er.
    Der alte Mann wäre lieber hinten eingestiegen, früher war man in ein Taxi immer hinten eingestiegen, auch wenn man allein
     fuhr. Er zog die Beifahrertür weiter auf und reichte dem Fahrer die Fototasche, der legte sie achtlos auf den Rücksitz.
    Er ignorierte die ausgestreckte Hand, hielt sich an Türöffnung und Kopfstütze fest, ließ sich langsam rückwärts hinab, bis
     er den Sitz unter sich fühlte. Seine Beine waren noch draußen, die Beine hatte er nachziehen wollen, sein Schuh blieb hängen.
    Er versuchte es noch einmal, hob das linke Knie, beschrieb mit dem Oberschenkel einen Halbkreis in Richtung Türöffnung, sein
     Schuh blieb hängen. Dort, wo die Sohle vorstand, wo sie mit dem Oberleder vernäht war, blieb sie hängen an der schwarzen Gummifütterung
     der Tür. Er versuchte das Bein höher zu heben, sein Oberschenkel begann zu zittern, höher ging nicht.
    |24| »Geht’s«, fragte der Fahrer.
    »Ja«, antwortete er, ließ das Bein wieder sinken, Schneematsch quoll unter der Sohle hervor. Er schob beide Hände unter den
     linken Oberschenkel, verschränkte die Finger, zählte tonlos bis drei, zog und hob gleichzeitig erst das linke und dann das
     rechte Bein ins Wageninnere.
    »Zur Post.« Er wollte die Tür zuknallen, doch dafür reichte es nicht, sie schloss mit einem Schmatzen. Sein Körper wurde gegen
     die Tür gedrückt, als sie vom Bahnhofsplatz fuhren, gegen die Tür gedrückt, wie ein Sack, gefüllt mit irgendwas, er tastete
     nach dem Haltegriff über dem Fenster. Bis zur Pensionierung war er zwei Mal die Woche schwimmen gegangen. Zwei Mal die Woche
     hatte er vor dem Dienst frierend auf dem Sprungblock gestanden, hatte tief eingeatmet, hatte Finger auf Fußspitzen gepresst
     und war nach vorn geschnellt. Zwanzig Bahnen, zwanzig Mal die Linie entlang, die seine von den anderen Bahnen trennte, schwarz
     und mit einem T-Balken am Ende. Olympiabahnen, zehn Brust, zehn Kraul war er geschwommen, neunzehn Mal hatte er gewendet,
     beim T-Balken, neunzehn Mal vor dem Dienst.
    »Arztbesuch«, fragte der Fahrer.
    »Zur Post«, wiederholte der alte Mann, »bitte«, er bemühte sich, gerade zu sitzen, sah nach vorn, die Scheibenwischer verschmierten
     Regentropfen. Sie hielten an einer roten Ampel, der Fahrer schwieg. Eine Frau mit buntem Anorak und winterbleichem Gesicht
     überquerte die Straße, sie trug rechts und links volle Aldi-Tüten. Er meinte im Augenwinkel eine Bewegung |25| wahrzunehmen, der Fahrer hatte den Kopf gedreht, musterte ihn. Er fühlte den Blick auf seiner Schulter, seinem schuppenbesetzten
     Kragen, fühlte, wie der zerknitterte Mantel besehen wurde, der glattgescheuerte Cord über seinen Knien, die Fäden am Hosensaum.
     Der Schnee hatte weißzackige Linien auf seinen Schuhen hinterlassen, die Schuhspitzen waren zerschrammt, der rechte Schnürsenkel
     gerissen und wieder verknotet. Verwahrlost, musste der Fahrer denken, er war verwahrlost. Er bemühte sich, gerade zu sitzen,
     sah nach vorn, an Körper und Kleidung verwahrlost, graues Schneewasser spritzte auf, als sie beschleunigten.
     
    Der Bus fuhr in wenigen Minuten, er stellte sich unter den Windschutz der Haltestelle, der Regen durchnässte seine Hose von
     den Knien abwärts.
    »War es schlimm«, fragte eine Frauenstimme dicht hinter ihm. »War es schlimm?«
    Er fuhr herum, Jana Potulski hatte den Kopf schief gelegt, musterte ihn.
    »Nein«, er schüttelte den Kopf, »Nein, war nicht schlimm.«
    »Ich muss rüber«, sie zeigte mit dem Daumen hinter sich, »über die Grenze.«
    »Haben Sie Hunger«, fragte der alte Mann.
    Sie zögerte, sah hinab auf ihre nassen Turnschuhe, er öffnete die Schnalle der Fototasche, klappte den Deckel auf, zog die
     Klarsichttüte mit den Broten heraus.
    »Hier«, sagte er und hielt sie vor sie hin, »Mettwurst oder Schmelzkäse?« Die Thermoskanne ließ er in der |26| Tasche, er hatte nur einen Becher, er wollte Becher und Tee nicht aus Höflichkeit ihr überlassen.
    »Was machen Sie in Deutschland«, fragte er.
    »Arbeiten«, sie biss große Stücke aus dem Mettwurstbrot, »arbeiten in Rheinsberg. Saubermachen.«
    »Warum fahren Sie nicht nach Rheinsberg zurück, wenn Ihnen alles gestohlen wurde, wie Sie behaupten?«
    »Nein«, sie musterte das
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