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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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»mickrig«, hatte sein Vater gesagt. Der Junge grüßte nicht.
    Der alte Mann ging vorsichtig die Straße hinunter, es war glatt.
    An der Ampel stand eine Frau mit langen braunen Haaren und wartete. In der Hand hielt sie eine blaue Plastikschale mit Erdbeeren.
     Es war so kalt, dass sie Wollhandschuhe trug, aber sie aß Erdbeeren und ließ die Kelchblätter achtlos auf die Erde fallen.
     Die Blätter sahen auf dem Schnee aus wie grüne gezackte Blüten. Er hob die Hand, wollte ihr auf die Schulter tippen, Sie verschmutzen
     den öffentlichen Raum sagen. Sie trug eine dicke Pelzjacke, sie würde ein Tippen kaum bemerken. Er zögerte, die Hand auf halbem
     Weg zu ihrer Schulter, überlegte, ob er seine behandschuhten Finger von hinten fest in ihren Rücken stoßen sollte. Sein Arm
     stand noch in der Luft, als die Ampel auf Grün wechselte. Er ging hinter ihr, die Augen fest auf die Stelle zwischen ihren
     Schulterblättern gerichtet, wo er sie hatte stoßen wollen.
     
    Mit Erdbeeren waren sie ins Bordell gefahren, mit Erdbeeren statt Blumen. Hatten sie auf der Hinfahrt an einem Stand am Straßenrand
     gekauft. Die Früchte in den Spankörben auf dem Rücksitz waren überreif gewesen. Es hatte zu dämmern begonnen, die Luft staute
     sich im Auto, und Schweißperlen ließen die Bremsenbisse auf seinem Rücken jucken. Er hatte unten im Auto gewartet, er war
     frisch verheiratet gewesen. Hatte gewartet, bis die Nacht so kühl geworden war, dass er die Fenster hochkurbelte. Die Scheiben
     beschlugen, |11| Kondenswassertropfen rannen an ihnen herab, als seine Kollegen wiederkamen, die Türen aufrissen und gähnend einstiegen.
    Der Bus zum Ostbahnhof war pünktlich, er setzte sich auf den Behindertensitz, sollten sie ihm doch nachweisen, dass er nicht
     behindert war. Am Abend würde er den Film von gestern entwickeln, Berliner Dom, Touristen unter dem Portal eng zusammengedrängt,
     grauer Himmel gespiegelt in Pfützen. Zwei Männer stiegen hinter ihm ein, blieben im Mittelgang stehen, neben seinem Sitzplatz,
     hielten sich mit einer Hand an den grauen Gummischlaufen fest. Er sah geradeaus, die braune Plexiglas-Trennscheibe vor ihm
     war mit Fingerabdrücken übersät. »Ein Gig Speicher, neunzehn MB Lesegeschwindigkeit, Corsair Voyager drei, zwölf Euro sechzig«,
     der eine hielt dem anderen einen kleinen roten Plastikklotz hin. »Sensationell«, sagte der.
    Er sah aus dem Busfenster, sie fuhren am Kanal entlang, auf der Böschung winterkahle Büsche, zwischen ihnen Müll. Nicht weit
     von hier war er Lehrling gewesen, beim Atelier Wagner – Portraits und Werbefotografie. Hatte weiße Leinenanzüge mit weiten
     Beinaufschlägen getragen und versucht, mit den Mannequins anzubändeln. Hatte nach wenigen Wochen kündigen müssen,
Vater gestorben, ich brauch dich so sehr
, hatte Mutter telegrafiert.
    Der Zug nach Hause war überfüllt gewesen, Schulkinder mit sonnenbrandgeröteten Gesichtern und kurzgeschorenen Haaren saßen
     lachend im Gang und riefen einander Scherze zu. Nachdem sie umgestiegen waren |12| und die Räder in die Stille hinein
Delmenhorst
,
Delmenhorst
stampften, war etwas Beschämendes von unten, aus seinem Bauch aufgestiegen, bis hinauf zu seinen Augen. Die übriggebliebenen
     Fahrgäste starrten ihn an, Ellbogen stießen in Rippen. Er war aufgestanden, hatte sich in der Toilette eingeschlossen. Hatte
     sein Gesicht beim Weinen im Spiegel betrachtet, und dann betrachtete er sein Gesicht nach dem Weinen, denn er konnte unmöglich
     in das Abteil zurück.
     
    Der alte Mann lehnte sich in das Polster, als der Zug anfuhr. Es roch nach kalter Asche im Abteil, sobald er sich vorbeugte,
     stärker. Der Aschenbecher in der rechten Armlehne stand einen Spalt offen, braun verfärbte Filterenden ragten heraus, der
     Aschenbecher war so voll, dass er nicht mehr schloss. Er versuchte die Kippen mit den Fingerspitzen hineinzudrücken, die Stummel
     gaben nach, Asche staubte auf seine Hose. Ekel zog ihn zurück, er würde sich beschweren, beim Schaffner beschweren. Er hatte
     keine Fahrkarte. Der Zug rollte langsam am alten Depot vorbei, rund und mit eingeschlagenen Scheiben und Schmierereien auf
     den teerbestrichenen Holzwänden. Die Schmierereien seien Buchstaben, hatte er in der Zeitung gelesen, er konnte keine Buchstaben
     erkennen. Das Schienenmuster verrostet, sah aus, wie für Kinder zum Spielen gedacht. Er könnte den Sitz gegenüber nehmen,
     oder ein anderes Abteil. Er hatte immer nur im Freien geraucht,
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