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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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mir vorstelle, daß es all dieser Millionenheere und riesigen Luftflotten und unzählbaren Opfer bedarf, um den Chef kleinzukriegen. Welche andere Frau hat so einen Freund? Er selbst scheint das alles völlig selbstverständlich zu finden.
    Nach dem Ende des Geburtstagsempfangs ging er ungeachtet der Gefahr hinauf in den Garten, um einige Hitlerjungen, die dort angetreten waren, mit dem Eisernen Kreuz auszuzeichnen. Am liebsten hätte ich diese Gelegenheit genutzt, um Himmler anzusprechen und ihn zu fragen, ob er etwas von einer Aktion seiner Gestapo im Archiv von Geiselhöring wisse, aber das wagte ich nicht. Der Rest des Tages war wieder Besprechungen gewidmet, und abends flohen alle wichtigen Leute Hals über Kopf an sicherere Orte. Morgen wird sich der Belagerungsring um die Stadt wohl schließen. Ich konnte sehen, daß sie Angst hatten, jetzt, da es auf einmal um ihr eigenes Leben ging. All diese Feiglinge versuchten den Chef noch ein letztes Mal dazu zu überreden, nach Bayern zu gehen und den Krieg von dort aus weiterzuführen, doch er ist fest entschlossen, in Berlin zu sterben. Auch Speer war plötzlich verschwunden, ohne sich zu verabschieden; er ist der einzige, bei dem ich es bedaure, daß ich ihn nie wiedersehen werde. Von den engsten Mitarbeitern ist nur Goebbels geblieben, und leider auch Bormann.
    Mit den vier Damen aus dem Sekretariat und Fräulein Marzialy, der Köchin, am späteren Abend noch ein Glas Champagner getrunken in Hitlers kleinem Wohnzimmer. Er selbst trank Tee. In Gesellschaft von ausschließlich Frauen schien er sich ein wenig entspannen zu können. Wie wir es bereits unzählige Male zuvor gehört hatten, sprach er, ununterbrochen Kekse essend, wieder über seinen politischen Kampf während der zwanziger Jahre, doch jetzt hatte er Tränen in den Augen, weil durch Verrat und Treulosigkeit seiner Generäle alles verloren war. Nichts bleibe ihm erspart, klagte er, und ich sah, wie er währenddessen mit seinem Daumen den Pulsschlag kontrollierte. »Und du?« sagte er zu Blondi mit ihren fünf saugenden Jungen, »wirst du mich auch verraten?« Kurze Zeit später plagten ihn wieder seine periodischen Magenkrämpfe, gegen die Dr. Morell ihm täglich Medizin verabreicht, die meiner Meinung nach aber die Ursache ist. Traudl und Christa schoben ihm einen Stuhl unter die Beine und machten von der Gelegenheit Gebrauch, ihm eine gute Nacht zu wünschen. Wenig später war ich mit ihm allein. Wir sahen einander an. Kekskrümel hingen in seinem Schnurrbart, und er hatte Mundgeruch. Früher hätte ich jetzt etwas unternommen, wozu er mich brauchte; und ich sah, daß er sah, was ich dachte, denn er sieht immer alles, aber es wurde nicht ausgesprochen. Das ist alles endgültig vorbei, genau wie alles andere auch.
    »Unser kleiner Siggi ist tot, Adi«, sagte ich. »Warum?«
    Er saß unter dem Porträt seiner Mutter, mit Blick auf ein Bild Friedrichs des Großen, und sah mich an, als müsse er sich erst wieder erinnern, wer das auch gleich wieder gewesen war, als müsse er ihn erst suchen unter den Zahllosen, die er seitdem hatte exekutieren lassen müssen. Zärtlich streichelte er Wölfi, seinen Lieblingswelpen, den er mit zittrigen Händen auf seinen Schoß gehoben hatte. »Weil mir berichtet wurde, er sei nicht rassenrein.«
    »Aber das stimmt nicht.«
    »Das wußte ich damals nicht.«
    »Aber er war doch unser Siggi.«
    Während er mich weiterhin ansah, wurde sein wachsbleiches Gesicht immer roter, und plötzlich schlug er mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels und schrie:
    »Was denkst du eigentlich? Das hätte den Juden gut in den Kram gepaßt! Mein Sohn ein jüdischer Bastard – ein Geschenk des Himmels! Ich hatte Rassenschande begangen! Die hätten sich totgelacht. Auch über mich haben sie derartige Dinge behauptet, genau wie über Heydrich, doch seit einiger Zeit lachen die meisten von ihnen nicht mehr.«
    »Aber er war doch, so oder so, dein Kind?«
    »Gerade darum. Die Vermischung mit jüdischem Blut hatte auch meine eigenen Eiweiße verdorben.«
    »Aber er hätte doch einfach Siegfried Falk bleiben können, danach hätte doch kein Hahn gekräht.«
    »Und eines Tages wäre es herausgekommen. Irgend jemand hätte darüber geredet. Falk zum Beispiel. Und wenn ich ihn und Julia hätte erschießen lassen, hätte jemand geredet, dem sie es gesagt hatten. Mit der Zeit kommt immer alles raus. Die Welt wird sich noch über das wundern, was demnächst alles rauskommt.«
    Der Glanz, der
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