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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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Siggi bei Julia und Ullrich in guten Händen war, machte ich mir doch Sorgen um ihn. Es war, als träumte ich während des ganzen Monats, den ich dort gefangen war. Ich blätterte in alten Modezeitschriften oder hörte Radio, das eine Hiobsbotschaft nach der anderen brachte. Schon nach wenigen Tagen hatte ich es aufgegeben, herausfinden zu wollen, was ich falsch gemacht hatte; das einzige, was mir einfiel, war, daß ich jetzt aus irgendeinem Grund den Preis dafür bezahlen mußte, daß ich mich in die unheilvollen Regionen der absoluten Macht begeben hatte.
    Dann wurde ich plötzlich ans Telefon gerufen, in das Büro des Direktors, der mich allein ließ. Bormann war am Apparat, kurze Zeit später die Stimme des Chefs:
    »Tschapperl! Das Ganze ist ein Mißverständnis! Noch heute mittag wirst du abgeholt und zum Berghof gebracht. Aber bereite dich auf eine grauenvolle Nachricht vor. Es hat einen Unfall gegeben. Siggi lebt nicht mehr.«
    Es war, als sei plötzlich die Sonne aufgegangen und gleich darauf die Nacht hereingebrochen. Im nachhinein glaube ich, daß ich ein paar Sekunden bewußtlos war. Als ich etwas sagen wollte, fiel er mir gleich ins Wort: »Frag nicht weiter. Auch ich finde es schrecklich, aber es passieren in letzter Zeit so viele schreckliche Dinge, und es werden noch mehr werden. Die Welt ist ein Jammertal. Und achte darauf, daß du dich auf dem Berghof nicht wie eine Mutter verhältst, die ihr Kind verloren hat.«
    Ein Jammertal, ja … aber weinen konnte ich nicht. Auf dem Berghof erfuhr ich die Geschichte von dem angeblichen Unfall auf dem Schießstand, von der ich kein Wort glaubte; da steckte viel mehr dahinter, denn warum hatte man mich sonst verhaftet? Und der brave Ullrich Falk, wie konnte er das nur tun? Hatte man ihn dafür bezahlt? Und war Julia damit einverstanden? Das war doch unmöglich! Die beiden konnte ich auch nicht fragen, denn sie waren inzwischen versetzt worden. Hausmeister Mittlstrasser behauptete, er wisse nicht, wohin. Noch am selben Nachmittag bat ich ihn, mir Siggis Grab zu zeigen, aber auf dem Friedhof von Berchtesgaden klappte ihm vor Verwunderung die Kinnlade nach unten. Er deutete auf den Boden und sagte: »Hier war's, Fräulein Braun, hier an dieser Stelle, das weiß ich ganz genau. Es sollte auch noch ein Grabstein aufgestellt werden.« Heuchelte er das alles nur? Hatte es dort überhaupt ein Grab gegeben? Lebte Siggi noch und war bei Ullrich und Julia? Nein, ich sah, daß seine Verwunderung aufrichtig war. Wir gingen zum Friedhofsverwalter, doch auch in seiner Kartei war kein Siegfried Falk zu finden. Ich schwieg. Sie hatten ihn natürlich wieder ausgegraben und verbrannt. Es durfte ihn nicht gegeben haben.

    19. IV. 45
    Allmählich gebe ich die Hoffnung auf, noch jemals mit Adi über das Drama mit unserem Siggi reden zu können. Wie lang haben wir noch zu leben? Eine Woche? Zwei Wochen? Vielleicht hat es genau deshalb keinen Sinn, und vielleicht geht er diesem Gespräch aus dem Weg, aber solang wir noch leben, sind wir doch nicht tot!
    Als Feldwebel Tornow, Adolfs Hundepfleger, heute früh mit Blondi und seinem eigenen Dackel Schlumpi einen Spaziergang durch den Tiergarten machen wollte – das heißt über die kahle Fläche mit rußschwarzen Baumstümpfen, die davon noch übriggeblieben ist – entschloß ich mich, ihn mit Stasi und Negus zu begleiten, auch wenn Adi eigentlich nicht möchte, daß ich nach draußen gehe. Aber er schlief noch, er würde es also höchstens hinterher erfahren, von Rattenhuber, der für seine persönliche Sicherheit verantwortlich ist. Blondi wollte zunächst nicht mit, sie wollte das Nest mit ihren Jungen nicht allein lassen. Der Rauch, der Gestank und der Staub der sterbenden Stadt verhinderten, daß uns der Spaziergang nach den Tagen in der muffigen Bunkerluft erfrischte; die Bläue des Lichts und auch der Wind berührten mich, nach dem toten, bewegungslosen Licht in der Tiefe. Das Hotel Adlon am Brandenburger Tor brannte, aber ich war froh, mir endlich einmal wieder eine Zigarette anzünden zu können. Ich mußte nicht befürchten, erkannt zu werden, denn niemand in Deutschland kennt mich; das wird sich eines Tages ändern. Das Dröhnen der Front war wieder näher gekommen, es klang wie ein heranziehendes Gewitter, nein, anders, wie das Brüllen eines urweltlichen Tieres, das allesvernichtend auf uns zukriecht. Der Ausflug dauerte nicht lang, Granaten schlugen ein, und wir mußten zusehen, daß wir mit den Hunden wegkamen.
    Jetzt
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