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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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Bleibtreustraße und wollte gerade gehen, in Zivil, mit einer Tasche voller Geld und Wertgegenstände und in Begleitung seiner Mätresse, der Frau eines internierten ungarischen Diplomaten, mit der er in die Schweiz flüchten wollte. Ihr gelang es zu entkommen. Oh, wie ich diesen doppelten Verräter verabscheue. Ich hatte den Eindruck, daß Adi ihn noch heute hinrichten lassen wollte, doch mit dem Hinweis auf die hochschwangere Gretl konnte ich ihn umstimmen, und nun hat er ihn nur degradiert und einsperren lassen.
    Bormann fragte mich heute nachmittag mißtrauisch, was ich denn da die ganze Zeit schreibe. Er kann es nicht ausstehen, wenn er irgend etwas nicht weiß, dieser Rohling. Abschiedsbriefe an meine Schwestern und Freundinnen, sagte ich. Immer wenn ich ein Blatt vollgeschrieben habe, verstecke ich es hinter dem Lüftungsgitter.

    28. IV. 45
    Ich bin Frau Hitler! Das ist der schönste Tag in meinem Leben: Eva Hitler! Eva Hitler! Frau Eva Hitler-Braun, Gemahlin des Führers! Die First Lady Deutschla nds! Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt! Zugleich ist heute der letzte Tag meines Lebens – doch was ist schöner, als am schönsten Tag zu sterben? Es ist soweit. Gestern abend um zehn hörte ich Adi plötzlich brüllen wie ein wildes Tier; nie zuvor hatte ich ihn so brüllen hören, aber ich wagte es nicht, zu ihm hinüberzugehen. Goebbels erzählte mir eine Stunde später, daß dem Führer der Bericht eines englischen Pressebüros, den man aufgefangen hatte, vorgelegt worden war. Darin wurde enthüllt, daß Himmler über den schwedischen Grafen Bernadotte in Friedensverhandlungen mit den westlichen Alliierten eingetreten war. Himmler! Nach Göring hatte ihn schließlich auch sein treuester Anhänger und einzig verbliebener Kandidat für die Nachfolge verraten. Das sei das Schlimmste, was ihm hatte passieren können, sagte Goebbels, und dies bedeute unser aller Ende. Ich hatte keine Ahnung, was während der nächsten Stunden in der Zitadelle vor sich ging; inzwischen war es Sonntag geworden, niemand schlief, die meisten von uns werden nie wieder schlafen, und um ein Uhr nachts stand Adi plötzlich in meinem Zimmer, fast nicht wiederzuerkennen, mit wirrem Haar, unrasiert, das Gesicht voller roter Flecken. Am ganzen Körper zitternd warf er sich auf mein Bett und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Nachdem er wieder ein wenig zu sich gekommen war, berichtete er mir, was ich bereits wußte, und daß er den Befehl gegeben habe, Himmler zu verhaften und zu erschießen. Wortlos setzte ich mich neben ihn auf den Boden und nahm seine schöne, kalte Hand in die meinen. Er sah mich an und sagte, wobei sich seine Augen mit Tränen füllten:
    »Jetzt ist mir alles klar, Tschapperl. Bereits vor
    fünfzehn Jahren, noch vor der Machtergreifung, habe ich nachforschen lassen, ob du und deine Familie arisch seid. Du verstehst vielleicht, daß ich in dieser Hinsicht kein Risiko eingehen konnte. Aus irgendeinem Grund beauftragte ich Bormann damit und nicht Himmler, der schon damals Akten über alles und jeden angelegt hatte, auch über dich natürlich, und sogar über mich, wie ich vermute. Heute denke ich, meine Intuition, die mich noch nie getrogen hat, signalisierte mir damals zum ersten Mal, daß man ihm doch nicht hundertprozentig vertrauen kann. Die Nachforschungen ergaben nichts, und damit war die Sache für mich erledigt. Nicht aber für Himmler. Er fühlte sich übergangen, zu Recht, und seit dieser Zeit wartete er darauf, sich revanchieren zu können. Erinnerst du dich noch«, fragte er plötzlich, »wie wir einmal auf der Terrasse des Berghofs zusammensaßen, du, Bormann und ich, und daß ich sagte, vielleicht würde ich eine Dynastie gründen, genau wie Julius Cäsar?« »Vage.«
    »Aber ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen. Julia stellte gerade Kaffee und Kuchen auf den Tisch – und ich sagte es mit Absicht in ihrer Gegenwart, damit sie sich darauf einstellen konnte, daß sie sich eines Tages vielleicht von Siggi würde trennen müssen. Damals spielte ich mit dem Gedanken, dich gleich nach dem Endsieg zu heiraten. Dann hätten wir hier in Germania die herrlichste Hochzeit aller Zeiten gefeiert, mit wochenlangen Festen im gesamten Großdeutschen Weltreich. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag, 1959 also, wäre Siegfried Hitler dann wie Augustus mein Nachfolger als Führer geworden. Du und ich, wir hätten uns nach Linz zurückgezogen, wo ich mich als alter Mann von siebzig Jahren nur
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