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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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waren.
2
    Die Journalistin, Sabine, rief an und teilte Herter mit, daß sie unten auf ihn wartete. In Begleitung von Maria fuhr er mit dem Lift in die luxuriöse, mit Mahagoniholz getäfelte Lounge. Die Sessel und Kanapees zwischen den großen Spiegeln und den Vasen mit riesigen Blumensträußen waren alle besetzt. Er erkannte Sabine an der deutschen Ausgabe seines letzten Romans, die sie unter dem Arm trug wie das Erkennungszeichen bei einem Treffen, das durch eine Kontaktanzeige zustande gekommen ist. Auch die Jeans und das Männeroberhemd (von links nach rechts geknöpft anstatt andersherum) unterschieden sie von den großbürgerlichen Gästen. Ehe er zu ihr hinüberging, küßte er Maria auf die Stirn; sie war zum ersten Mal in Wien und wollte einen Stadtbummel machen.
    »Bis später. Laß uns heute abend ruhig hier essen.«
    »Soll ich dir etwas mitbringen?«
    »Ich habe schon alles.«
    Er stellte sich der jungen, blonden Frau vor und fragte, wie lange das Interview dauern würde. Nicht länger als fünf Minuten oder so. Auch in ihren Augen glänzte wieder der bewundernde Blick, den er so gut kannte und der ihn immer noch verlegen machte. Sie sah ihn an, jedoch auf eine merkwürdige, doppelte Art: einerseits so, wie jemand einen Menschen ansieht, andererseits, wie jemand einen Gegenstand betrachtet, ein Kunstwerk. Was sollte er mit dieser Bewunderung anfangen, die gleichzeitig eine Kluft zwischen ihnen aufriß? Sein ganzes Leben lang hatte er einfach nichts anderes getan als das, was ihm Spaß machte, denn sonst hätte er sich zu Tode gelangweilt, und dennoch hatte er sich dadurch mehr und mehr selbst in ein Kunstwerk verwandelt. Worin bestand eigentlich sein Verdienst? Natürlich, die meisten Menschen konnten keine schönen Bücher schreiben, doch dieses Unvermögen war für ihn im Grunde ebenso unbegreiflich wie für sie sein Talent. Es war selbstverständlich, daß er schöne Bücher schreiben konnte. Um ihr Unverständnis zu begreifen, mußte er an einen Komponisten oder einen Maler denken: Wie war es in Gottes Namen möglich, daß man eine Symphonie oder ein Gemälde schaffen konnte? Bach und Rembrandt ihrerseits hätten sein Unverständnis nicht begriffen. Man mußte es einfach nur tun. Daß diese Taten grandiose Musiktempel, Opernhäuser, abgeleitete Größen wie Dirigenten und Musiker, Museen, Theater, Bibliotheken, Standbilder, gelehrte Bücher, Straßennamen und einen Blick wie den in Sabines Augen nach sich zogen, das war eigentlich ein Wunder.
    In einem Nebenraum, dessen Wände von oben bis unten mit signierten Fotos von Prominenten und vergessenen Gästen bedeckt waren, von denen vermutlich keiner mehr lebte, stand alles für die Aufnahme bereit. Er gab dem Kameramann, dem Tontechniker und dem Beleuchter die Hand, die alle eine leichte Verbeugung machten. Niemand in den Niederlanden würde auch nur auf die Idee kommen, sich zu verbeugen. In einem roten Plüschsessel schlug er die Beine übereinander, die Linse und die Lampen auf sich gerichtet, über sei nem Kopf der Galgen mit dem Mikrophon, das aussah wie der flauschige Kokon eines riesigen Insekts. Sabine saß direkt neben der Kamera auf einem Stuhl mit gerader Lehne. »Eins, zwei, drei, vier«, sagte sie.
    Der Tontechniker drehte an einem Knopf und sah ihn an.
    »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«, sagte Herter, »das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan …« Lächelnd sah Sabine von ihren Notizen auf und sagte: »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.«
    Der Tontechniker, der vermutlich gar nicht bemerkt hatte, daß hier der Schluß von Goethes Faust zitiert wurde, sondern nur die Aussteuerung richtig eingestellt hatte, nickte.
    »Läuft.«
    »Läuft.«
    Auch wenn er schon viele hundert Mal vor der Kamera gestanden hatte, praktisch seit es Fernsehen überhaupt gab, befiel ihn doch noch immer eine leichte Aufregung, wenn es wieder einmal soweit war. Das war kein Lampenfieber, denn er wußte, daß er das Ganze mühelos über die Bühne bringen würde, es lag am entfremdenden Charakter der Situation: Er sah in Sabines blaue Augen, und gleich daneben war das allsehende gläserne dritte Auge, bleich wie das eines toten Fischs, das dafür sorgte, daß dieses Gespräch heute abend eins unter Hunderttausenden von Augen sein würde, die jetzt alle noch auf etwas anderes gerichtet waren.
    »Willkommen in Wien, Rudolf Herter aus Amsterdam. Morgen abend lesen Sie in der Nationalbibliothek aus Ihrem Opus magnum
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