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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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Seitengiebel der imposanten, im Renaissancestil errichteten Staatsoper eingenommen; auf dem Platz seitlich des Hotels, am Reiterstandbild mit dem hohen Sockel, stand eine Reihe von Fiakern und wartete auf Touristen, die Pferde mit Decken über dem Rücken, die Kutscher in langen Mänteln mit Umhang und Melone, auch die Frauen. Etwas weiter entfernt lag die Albertina, dahinter sah man in der dünnen Herbstluft die Türme und Kuppeln der Hofburg. Seine Gedanken wanderten zurück in die Zeit seines ersten Besuchs in Wien, vor nunmehr sechsundvierzig Jahren. Er war sechsundzwanzig, strotzte vor Gesundheit und hatte ein Jahr zuvor seinen ersten Roman, Die Vogelscheuche , publiziert, der bereits vor seiner Veröffentlichung einen Preis bekam. Als man ihm mit Fünfzig den Staatspreis verlieh, sagte der Minister, er sei ein »geborener Staatspreisträger«, und genauso empfand er auch selbst. Derartiges lag offenbar auf seinem Weg, doch außer ihm wußte das 1952 noch niemand. Ein befreundeter Journalist sollte für eine Illustrierte eine internationale Reportage machen und fragte ihn, ob er ihn begleiten wolle. Autobahnen gab es zu der Zeit noch kaum, und in einem Volkswagen fuhren sie auf Landstraßen über Köln, Stuttgart und Ulm nach Wien. Damals, Mitte der fünfziger Jahre, war der Zweite Weltkrieg gerade erst vorbei, die Städte lagen in Trümmern, sein Freund und er schliefen in unterirdischen Luftschutzräumen, die provisorisch zu Hotels umfunktioniert waren. Auch Wien war noch voller Ruinen. An zwei Dinge erinnerte er sich besonders deutlich. Erstens, wie er am Morgen nach ihrer Ankunft in seinem ärmlichen Hotel in der Wiedner Hauptstraße aufwachte, nicht weit von hier. Sein Zimmer lag an einem Innenhof, und als er das Fenster öffnete, überwältigte ihn eine völlig neue Erfahrung: Er roch einen undefinierbaren süßen Duft, an den er sich erinnerte, ohne ihn je zuvor gerochen zu haben. War es möglich, daß man auch die Erinnerung an Gerüche erben konnte? Außerdem spürte er überhaupt keine Temperatur. Die bewegungslose Luft war kein bißchen wärmer oder kühler als seine Haut; es war, als flössen er und die Welt ineinander, und irgendwie hatte er das Gefühl, zu seinem Vater nach Hause gekommen zu sein, mit dem er damals bereits kein Wort mehr wechseln konnte. Das zweite, woran er sich erinnerte, war eine Begegnung, die einige Tage später stattfand. Wien war noch von den Alliierten besetzt. Am Giebel der Hofburg, wo Hitler 1938 den Jubel der Massen entgegengenommen hatte, hing ein riesiger roter Sowjetstern mit Hammer und Sichel. Wie es dazu kam, wußte er nicht mehr, aber dort, im russischen Sektor, war er mit einem Soldaten der Roten Armee ins Gespräch gekommen: ein paar Jahre jünger als er selbst, einen Kopf kleiner, die Feldmütze schief auf dem dunkelblonden Haar, geschmeidige Stiefel und einen Gürtel um sein weites, bäuerisches Uniformhemd mit Schulterstücken, das ihm über die Hose hing. »Ins Gespräch kommen« war eigentlich nicht der richtige Ausdruck, keiner der beiden verstand auch nur ein Wort des anderen. Das einzige, was er herausbekam, war, daß der andere Juri hieß und aus den unendlichen Weiten der Sowjetunion hierhergekommen war, um aufzupassen, daß Hitlers Saat nicht erneut aufging. Ein paar Stunden lang waren sie zusammen durch Wien gelaufen, den Arm um die Hüfte des anderen, und hatten sich gegenseitig auf die Österreicher aufmerksam gemacht, wobei sie immer nur einen Satz sagten: »Germanski nix Kultur.«
    Wo war Juri jetzt? Wenn er noch lebte, ging er auf die siebzig zu. Herter seufzte tief. Vielleicht sollte er all das einmal aufschreiben. So langsam wurde es Zeit für seine Memoiren, wäre es nicht so, daß sein ganzes Werk eigentlich aus Memoiren bestand: Memoiren nicht nur seines wirklichen Lebens, sondern auch seiner Phantasie, die beide nicht voneinander zu unterscheiden waren. Jemand klopfte. Ein Hoteldiener brachte einen großen Blumenstrauß, den der Botschafter geschickt hatte.
    Herter sah hinunter auf den Platz. Die Fiaker versorgten ihre Pferde, und hinter einer Balustrade ließ auch der bronzene Erzherzog auf seinem Bronzepferd den Blick über die Stadt schweifen. Auf einem leeren Teil des Platzes stand ein großes, modernes Denkmal an der Stelle, wo bei einem Bombenangriff Hunderte von Wienern ums Leben gekommen waren. Auch das hatten sie ihrem verlorenen Sohn zu verdanken, dem sie ein paar Jahre zuvor auf dem Heldenplatz so verliebt in die Arme gefallen
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