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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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überhaupt nicht verstehe.«
    »Rudolf Herter«, sagte Sabine mit einem scharfen Lächeln.
    »Das wäre dann die Aufgabe eines anderen«, sagte Herter, ebenfalls lächelnd, »Ihre zum Beispiel. Nein, ich meine nicht jemanden, dessen Worte Sie nicht verstehen, sondern jemanden, bei dem Sie nicht ergründen können, wer oder was er ist . Oder sie, natürlich. Nehmen wir einmal an, ich kenne eine Frau, die für mich ein Rätsel ist …« »Kennen Sie eine solche Frau?« unterbrach ihn Sabine.
    »Ja«, sagte Herter und dachte an die Mutter seiner Töchter. Wie ein aufziehendes Gewitter begann in seinem Kopf die Idee Form anzunehmen. »Wenn ich mit meiner Auffassung von Phantasie recht habe, dann muß es möglich sein, diese Frau besser zu verstehen, indem man sie mit vollkommen fingierten, extremen Situationen konfrontiert und schaut, wie sie sich dann verhält. Gleichsam in einem Gedankenexperiment – nein, besser: Phantasieexperiment.«
    »Da bin ich aber froh, daß nicht ich diese Frau bin«, sagte Sabine mit einem leichten Abscheu in der Stimme. »Ich weiß nicht … mit Menschen experimentieren … ich finde, das klingt gruselig.« Herter hob leicht die Arme. Sie hielt ihn jetzt offensichtlich für eine Art literarischen Dr. Mengele, doch er hütete sich, diesen Namen auszusprechen. »Sie haben recht. Vielleicht ist es nicht ungefährlich, Derartiges mit einem lebenden Menschen zu tun, den man liebt. Vielleicht darf man so etwas nur mit einem unbegreiflichen Toten machen, den man haßt.« »Und so jemanden kennen Sie auch?«
    »Hitler«, sagte Herter sofort. »Hitler natürlich. Das heißt, gerade ihn kenne ich natürlich nicht. Übrigens auch wieder einer Ihrer Landsleute.« »An den wir nicht gern erinnert werden«, bemerkte Sabine.
    »Das wird man aber noch Jahrhunderte lang tun. Es gibt inzwischen hunderttausend Studien, die sich mit ihm beschäftigen, wenn nicht sogar mehr: politische, historische, ökonomische, psychologische, psychiatrische, soziologische, theologische, okkultistische und ich weiß nicht was sonst noch für welche. Von allen Seiten hat man ihn eingekreist und erforscht, die Reihe der Bücher, die über ihn erschienen sind, reicht von hier bis zum Stephansdom, mehr Bücher als über irgendeinen anderen Menschen, doch sie haben uns keinen Schritt weitergebracht. Ich habe nicht alles gelesen, denn dafür reicht ein Menschenleben nicht aus, doch wenn jemand ihn befriedigend erklärt hätte, dann wüßte ich es. Er ist das Rätsel geblieben, das er von Anfang an für alle war – nein: er ist durch diese Studien immer rätselhafter geworden. All diese sogenannten Erklärungen haben ihn nur noch unsichtbarer werden lassen, worüber er selbst sehr zufrieden wäre. Wenn Sie mich fragen, dann sitzt er in der Hölle und lacht sich tot. Es wird Zeit, daß sich das ändert. Vielleicht ist die Fiktion das Netz, mit dem man ihn fangen kann.« »Also ein historischer Roman?«
    »Nein, nein, das ist ein braves Genre, das von den historischen Fakten ausgeht, um sie anschließend auf mehr oder weniger plausible Weise mit Fleisch und Blut zu versehen. Ihr Landsmann Stefan Zweig war darin ein Meister. Manchmal nimmt dies grelle Formen an, wie in allen Büchern und Filmen, in denen die Ermordung Kennedys rekonstruiert wird, aber da geht es darum, ein Ereignis zu begreifen, nicht einen Menschen. Ein radikaler Moralist wie Rolf Hochhuth beginnt auch mit einer Tatsache in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie in Der Stellvertreter, dem Stück über die verhängnisvolle Rolle des Papstes während des Holocaust, um dann seine Phantasie darauf loszulassen. Doch mir schwebt eher der umgekehrte Weg vor. Ich möchte von irgendeiner fiktiven, höchst unwahrscheinlichen, äußerst phantastischen, doch nicht unmöglichen Tatsache der mentalen Wirklichkeit zur sozialen Wirklichkeit. Das ist, so denke ich, der Weg der wahren Kunst: nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten.«
    »Hat man das mit Hitler nicht auch bereits unzählige Male gemacht?«
    »Zweifellos. Ich aber noch nicht.«
    »Nun, wir warten neugierig auf Ihre Geschichte, Sie werden sich schon irgendwie aus der Affäre ziehen.«
    »Wenn die Götter mir wohlgesonnen sind, ja.« »Glauben Sie an Gott?«
    »Gott ist auch eine Geschichte, doch ich bin Polytheist, ein Heide, ich glaube nicht an eine Geschichte, ich glaube an viele Geschichten. Nicht nur an hebräische, sondern auch an ägyptische und griechische. Ich selbst habe auch – wenn ich so frei
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