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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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Gedicht erhalten? Hatte sie es gelesen? War sie schockiert, bestürzt? Gelangweilt, enttäuscht? Fand sie es lächerlich? Oder war sie vielmehr gerührt, hingerissen, und alles in bester Ordnung? Da Bilodo letzterer Möglichkeit den Vorzug geben wollte, beruhigte ihn der Gedanke an Tanias erste Reaktion bei der Lektüre des Tanka: War das nicht ein gutes Omen dafür, dass es Ségolène nicht anders ergehen würde? Dann musste er wieder an Roberts Urteil denken und war sich seiner Sache alles andere als sicher. »Beschissen« hatte er es genannt. War es denkbar, dass er durch einen schrecklichen Zufall im Recht war? Bilodo hatte deswegen Albträume. Er sah im Traum riesige Lippen, die voller Verachtung das Wort formten:
    »Beschissen.«
    Und diese Lippen gehörten Ségolène, diese aufdringlich roten Lippen, diese räuberischen weißen Zähne, dieser unbarmherzige Mund, der das tödliche Wort wiederholte:
    »Beschissen.«
    Und jedes Mal traf es ihn wie ein Dolchstoß ins Herz, denn er wusste, dass es stimmte, dass sein Gedicht beschissen war und dass sie absolut recht hatte, ihn für seine Dummheit zu bestrafen. Und Ségolènes Zähne zerrissen das Tanka in tausend Fetzen, die überallhin wirbelten und sich in den fernen Gefilden des gleichmütigen Nichts verloren, und auf diesen Zetteln konnte Bilodo sein eigenes, von tausend winzigen Spiegeln reflektiertes Bild, seine ins Unendliche vervielfältigte Verzweiflung erkennen   …
    Davon träumte er, und wenn er aufwachte, war er sich keiner Sache mehr wirklich sicher, und schon begann die nächste Fahrt auf dem Karussell der Angst. Dann fragte er sich, ob er, anstatt abzuwarten, nicht lieber vorbeugen, an Ségolène schreiben und ihr alles gestehen, ihr erzählen sollte, dass Grandpré tot und er lediglich ein jämmerlicher Nachahmer sei, wodurch er wenigstens sein Gewissen erleichtern würde, doch dann besann er sich und nahm erneut Vernunft an, in dem Wissen, dass es unmöglich war, er sich nur verraten und dieser kostbaren Korrespondenz ein Ende gesetzt hätte, die nach wie vor und mehr denn je die Würze seines Lebens ausmachte.
    Bilodo konnte ein Lied davon singen, er, der wie eine Wetterfahne zwischen Hoffnung und Resignation hin und her schwankte: Es gab nichts Schlimmeres, als zu warten, wenn der Ausgang ungewiss war.

    Schließlich traf Ségolènes Antwort ein. Bilodo verließ seine Sortierzelle und eilte zur Toilette, um sich dort zu verschanzen. Er hielt in Erwartung dessen, was wohl der Preis seiner Anmaßung sein mochte, den Atem an und faltete den Bogen auseinander. Ein Gedicht aus fünf Versen. Sie antwortete ihm mit einem Tanka:
     
    Stickig heiße Nacht
    feuchte Laken, die
    auf Schenkeln, Lippen glühen
    Ich suche Sie, verlier’ mich
    bin die erblühte Blume
     
    Bilodo blinzelte und glaubte, sich verlesen zu haben. Aber nein: Es war kein Irrtum. Die Worte standen tatsächlich dort, die Verse waren tatsächlich diese Verse und das Gedicht war dieses Gedicht.
    Er hatte mit einem missbilligenden Brief gerechnet, vielleicht auch mit einem einfachen Haiku wie jene, die siesich gewöhnlich schickten, oder bestenfalls mit einem romantischen Tanka wie dem seinen, doch gewiss nicht mit einem solchen Übermaß an Sinnlichkeit, einem so heißblütigen Gedicht. Was war nur in sie gefahren? Bilodo spürte, wie sich etwas in seiner Beckengegend regte, und merkte, dass er eine Erektion hatte, eine erstaunliche physiologische Offenbarung, die ihn gänzlich außer Fassung brachte. Noch nie hatte ein Brief von Ségolène bei ihm eine solche Reaktion ausgelöst. Nicht etwa, dass er noch nie ihr zu Ehren eine Erektion gehabt hätte, ganz im Gegenteil; das kam ständig vor, wenn er von ihr träumte. Aber einfach so, am helllichten Tage, ohne den willkommenen Vorwand des Unbewussten?
    Das lag natürlich an dem besonderen Tenor des Tanka, an dessen geballter Erotik. Hatte Ségolène geahnt, welche Wirkung ihr Gedicht auf ihn haben würde? War es Zufall oder Absicht? Wie sollte Bilodo darauf reagieren? Was konnte er darauf nur antworten?

    In jener Nacht träumte er von einer Schlange, die zwischen Farnen hindurchglitt und sich unmerklich zwischen die braunen, glatten Wurzeln eines lianenbewachsenen Baumstammes schlängelte. Nur handelte es sich bei dem Baum nicht um einen Baum, sondern um einen Körper, den nackten Körper der schlafenden Ségolène, neben der eine Flöte lag. Heimlich, um sie nur ja nichtzu wecken, erklomm die Schlange ihren Hals, wand sich um ihre
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