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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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er ihm ohne Furcht oder Traurigkeit entgegen, denn mehr noch als einen Tod bedeutete dieser Jahrestag eine Geburt, eine zweite Geburt   – die seine   –, und außerdem den Beginn seiner zarten brieflichen Bande mit Ségolène. Das Ereignis war gewiss nur für ihn von Bedeutung: In ihren Augen wäre es ein Tag wie jeder andere, dennoch war es ihm ein Bedürfnis, das Ende dieses ersten glücklichen Jahres zu begehen, wenn auch nur insgeheim:
     
    Ich war der Winter
    Ihr Wort mein Frühling
    Ihre Liebe der Sommer
    Was hält der Herbst uns bereit
    mit seinem Rot und Ocker?
     
    Einige Tage später rief Ségolènes Antwort bei Bilodo blankes Entsetzen hervor.
    Auch Ségolène erhoffte sich so manches vom Herbst   …
     
    Als Kind träumte ich
    oft vom kanadischen Herbst
    ich hab’ mein Ticket
    ich fliege am zwanzigsten
    wollen Sie mich empfangen?

20
    Der herrliche, verlockende Liebestraum entwickelte sich zum Albtraum. Wie war sie nur auf diese verrückte Idee gekommen? Den kanadischen Herbst sehen? Was hatte sie vor?
    Das kam nicht in Frage. Ségolène konnte nicht einfach so nach Montreal reisen, dann wäre alles vorbei, alles würde in sich zusammenstürzen. Wie konnte die Illusion aufrechterhalten werden, zumal sie doch wusste, wie Grandpré aussah, zumal sie doch diese verflixten Fotos miteinander ausgetauscht hatten? Aber wie konnte man sie von dieser unsinnigen Reise abhalten? Wie ihr eine Absage erteilen?
    Sie würde am zwanzigsten September ankommen. Das waren drei Wochen Zeit für Bilodo, ein geeignetes Gegenargument zu finden, irgendeine Ausrede zu erfinden. Sollte er ihr schreiben, dass er selbst verreisen müsse? Dass er den ganzen September über im Ausland seiund sie leider nicht empfangen könne? Aber was, wenn sie ihr Kommen auf später verschob, auf die Zeit nach seiner Rückkehr?

    Wie konnte sie nur so töricht sein? War sie sich nicht darüber im Klaren, dass sie alles verderben, ihre bis dahin vollkommene Beziehung leichtsinnigerweise aufs Spiel setzen würde? Es war natürlich nicht ihre Schuld: Sie wusste ja von nichts. Bilodo musste zugeben, dass er für sein Unglück allein verantwortlich war. Hätte er nicht vorhersehen müssen, was möglicherweise geschehen würde, ahnen, dass es früher oder später so kommen würde? Wie hatte er nur dermaßen blind sein können?
    Was sollte er tun? Sie wissen lassen, dass er sich erst kürzlich einer ästhetischen Operation unterzogen habe, durch die sich sein Aussehen stark verändert habe? Oder sich einfach auf und davon machen? Überstürzt umziehen? Diese Wohnung verlassen, die sie bei ihrer Ankunft zwangsläufig aufsuchen würde? Sie mit dem unergründlichen Rätsel um sein Verschwinden allein lassen? Aber wie sollte er eine solche Bürde aus Schuld, Feigheit, enttäuschter Hoffnung tragen? Wie sollte er vergessen, wie weiterleben?

    Es gab kein Entrinnen. Bilodo wusste, dass er in der Klemme steckte, dass er wie die unschuldige Maus unterdem unerbittlichen Stahlbügel ausweglos in der Falle saß. Es war das Ende des wohligen Traums, zerplatzt war jene selige Blase, in der er so lange geschwebt hatte, und dieser jähe Einschnitt erfüllte ihn mit ohnmächtiger Wut. Weder konnte er sie aufgeben noch hatte er den Mut, ihr gegenüberzutreten. Alle Optionen waren faul, alle Türen verschlossen. Er saß in der Klemme.

    Früh am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Gleichgültig hörte Bilodo, wie sich der Anrufbeantworter im Wohnzimmer einschaltete. Eine Nachricht wurde hinterlassen. Es war ein Verleger, einer von jenen, denen er das ›Enso‹-Manuskript geschickt hatte. Er gab in wenigen Worten zu verstehen, der Band habe ihm sehr gefallen, er wolle ihn herausgeben, und bat um baldigen Rückruf. Bilodo löste sich aus der Embryonalhaltung, die er seit Stunden eingenommen hatte, stand auf und hörte sich die Nachricht erneut an. Das Schicksal war manchmal voller Ironie. Während er sich am Vortag noch über die Botschaft gefreut hätte, erregte sie in ihm inzwischen nur noch Bitterkeit. Wozu sollte er sich auch freuen? Was konnte die Veröffentlichung von Grandprés Gedichten an der unausweichlichen Situation, in der er steckte, ändern, außer dass sie nur noch komplizierter wurde? War nicht ohnehin alles zu spät?
    Er nahm das Manuskript, schlug es aufs Geratewohlauf, so wie man in der Hoffnung auf eine Enthüllung Tarotkarten legt, und stieß auf dieses Haiku:
     
    Nach dem Horizont
    hinter die Kulissen späh’n
    den Tod umarmen
     
    Das
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