Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Puppengesicht war weiß und makellos gewesen, kunstvoll gearbeitet und zweifellos sehr wertvoll. Doch als sie die Puppe umgedreht hatte, hatte sie bemerkt, dass der Hinterkopf zersplittert war. In der Öffnung nistete eine fette Kreuzspinne.
    Daran musste sie denken, als sie nun der Hexe gegenüberstand. Eine so perfekte Fassade und dahinter ein Geist wie ein gefräßiges Raubtier. Ebenso gnadenlos, ebenso kalt.
    Draußen krachte erneut ein Donner.
    »Leb wohl, mein Kind«, sagte die Hexe. »Der Mond klagt hinter dunklen Wolken. Ich will ihn nicht warten lassen.«
    Und ohne ein weiteres Wort trat sie an Kyra vorüber, würdigte Chris mit keinem Blick und ging mit ruhigen Schritten den Stollen hinunter. Mühelos glitt sie durch den Bretterverschlag, geschmeidig wie eine Rauchwolke, und ging an Lisa und Nils vorbei, die starr vor Schreck im Regen standen. Bald darauf trat die Hexe in den Schatten des Bahndamms und verschmolz mit der Dunkelheit.
    In der Grabkammer legte Chris Kyra von hinten eine Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich herum.
    »Wir haben gewonnen«, sagte er leise. »Heute Nacht haben wir gewonnen.«
    Kyra nickte langsam, aber Chris sah ihr an, dass ihre Gedanken anderswo waren. Irgendwo in weiter Ferne. Vielleicht oben am Himmel, verloren in der Nacht. Auf der Suche nach Leben in den Staubwüsten des Mondes.
    Oder horchte sie in sich hinein? Auf die Stimme ihrer Mutter, tief in ihrem Inneren?
    Schließlich aber zuckte sie die Achseln und gestattete sich ein feines Lächeln.
    »Komm«, sagte Chris, »du kannst nicht alleine hier bleiben.«
    Kyras Lippen formten Worte, aber sie sprach sie nicht aus.
    Ich bin nicht allein. Bin es niemals gewesen.
    Mit einem Nicken folgte sie Chris ins Herz des Unwetters.

Tommys Rache
    Schrilles Kreischen drang aus dem Inneren des Kinderwagens.
    Kyra seufzte, während Chris und Nils sich die Ohren zuhielten. Nur Lisa zeigte Verständnis – oder Mitleid? –, trat an Kyra vorbei und beugte sich über das brüllende Kind zwischen den Kissen. Beruhigend redete sie auf den Kleinen ein, reichte ihm einen Plüschaffen und kuschelte ihn in seine Armbeuge.
    Nach einem letzten Krächzen verstummte Tommy und fuchtelte selig mit dem Stofftier.
    »Es ist erniedrigend«, brummte Kyra übellaunig. »Reine Schikane.«
    »Nimm’s nicht so schwer«, meinte Lisa besänftigend.
    Kyra funkelte sie an. » Den Tonfall spar dir für den Schreihals … Ich werd bestimmt nicht heulen, bis die Leute meinen Babysitter anstarren, als wäre er ein Kindermörder.«
    Lisa lächelte, und auch Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nur Nils teilte Kyras schlechte Laune. »Gibt’s für so was nicht Kindergärten?«
    »Tommy ist noch zu klein dafür«, belehrte ihn Lisa. »Außerdem ist er doch ganz süß.«
    » Süß? « , entfuhr es Kyra und Nils wie aus einem Munde. Chris lachte schon wieder.
    Als hätte der Kleine den feindseligen Ton dieses Protests verstanden, begann er prompt, erneut zu schreien. Um sie herum auf der Hauptstraße blieben Passanten stehen und blickten den Freunden und ihrem Kinderwagen hinterher.
    »Die müssen uns alle für Unmenschen halten«, meinte Chris.
    »Kinderquäler, sag ich doch«, bestätigte Kyra finster. »Irgendwer wird uns noch anzeigen.«
    Nach den Ereignissen der letzten Nacht war das allerdings keine allzu bedrohliche Vorstellung. Sie hatten den Mann im Mond besiegt und eine Hexe in die Flucht geschlagen – was konnte das noch übertreffen?
    Tommy zumindest gab sich alle Mühe. Er kreischte und heulte, bis sie das südliche Stadttor erreichten.
    An der Außenseite blieben sie stehen und blickten über die Festwiese. Junge Männer mit freien Oberkörpern oder in T-Shirts bauten gerade die Bühne ab. Die Arbeiten waren schon weit fortgeschritten, die meisten Stahlstangen des Gerüsts lagen gestapelt auf dem Anhänger eines Sattelschleppers. Aus allen Richtungen ertönten Rufe und metallisches Hämmern.
    Lisa beugte sich über den Kinderwagen, jetzt nicht mehr ganz so begeistert, und drückte Tommy abermals den Teddybären zwischen die Ärmchen. Sein Geschrei brach ab, aber jetzt brabbelte er leise vor sich hin, was auf die Dauer nicht weniger nervtötend war.
    Kyra schaute flehend zum Himmel. »Lieber Gott, verschone mich mit so einer Plage«, murmelte sie.
    »Seit wann betest du denn?«, fragte Chris schmunzelnd.
    »Das war nur so was wie ’ne Redewendung.«
    Nils’ Blick war neugierig auf die Arbeiten an der Bühne gerichtet. »Da müsste doch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher