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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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manchmal Gespenster beherbergten?
    Kyra, das lebende Spukschloss. Wow, das würde eine tolle Touristenattraktion werden. Vorausgesetzt, sie würden diese Nacht heil überstehen.
    Diesmal kam der Angriff von rechts. Wirbelnd rasten die Dornententakel durch die Nacht, silbrig schimmernd im knochenfarbenen Mondlicht.
    In Kyras Gehirn herrschte ein Chaos von Fragen und Zweifeln. Wenn die Verbindung zwischen Mond und Hügelgrab tatsächlich existierte, warum wurden dann sie und ihre Freunde nicht dort hinaufgesaugt?
    Dornenranken schossen auf der anderen Seite des Hügelgrabes in den Himmel empor wie die ausgestreckten Finger einer grotesken Dämonenklaue. Keine war kürzer als zehn, fünfzehn Meter. Blitzschnell zuckten sie vor und hieben herab auf den Stein der Grabkuppel. Wie die Drahtklingen eines gigantischen Eierschneiders hätten sie jeden in Scheiben zerteilt, der in ihre Reichweite geraten wäre. Die Freunde aber waren bereits auf der anderen Seite des Grabes, weit genug entfernt, um nicht mit den Zweigen in Berührung zu kommen.
    Etwas Seltsames geschah.
    Die Dornententakel verharrten einen Moment lang starr auf der Oberfläche des Grabes, dann wanden sie sich plötzlich wie Schlangen, denen jemand auf den Schwanz tritt. Zugleich wurden sie von unsichtbaren Händen nach oben gerissen, mehrere Meter über den Boden, mit einem Mal straff gespannt wie Bogensehnen.
    Der Mann im Mond riss seine Fangarme mit einem kraftvollen Ruck zurück, und da erst lösten sie sich aus dem gespenstischen Sog.
    »Es funktioniert«, murmelte Kyra atemlos.
    Chris nickte beeindruckt. »Du hattest Recht. Es ist, als sauge ihn irgendetwas zum Himmel hinauf.«
    »Zum Mond«, verbesserte Kyra, und im gleichen Moment sprang sie auch schon vor und begann, wilde Rufe in die Richtung ihres Gegners auszustoßen.
    Sie will ihn anlocken, dachte Lisa wie gelähmt. Sie lockt ihn tatsächlich an!
    Wenn der Mann im Mond wahrgenommen hatte, was mit seinen Fangarmen geschehen war, so zog er zumindest keine logischen Schlüsse daraus. Was die Hexe gesagt hatte, war die Wahrheit: Er hatte den Verstand verloren. Er war unfähig, die Gefahr zu erkennen.
    Lisa hätte am liebsten losgejubelt – bis ihr siedend heiß einfiel, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren.
    Als wollte auch ihr Gegner sie an diese Tatsache erinnern, schossen schon wieder Dornenranken heran, erneut von links. Sie hätten Lisa und Chris mühelos packen können, wäre ihr Ziel nicht ein anderes gewesen.
    »Kyra!«
    Lisa brüllte den Namen ihrer Freundin und ließ sich gleichzeitig fallen. Die Ranken schossen über sie hinweg und jagten in Kyras Richtung, quer über die Steinkuppel.
    Kyra riss die Augen auf und sah die Fangarme wie in Zeitlupe näher kommen. Instinktiv ließ sie sich zur Seite fallen, rollte mit angezogenen Armen die Wölbung hinunter. Hinter ihr klatschten die Zweige auf den Stein. Die ganze Kuppel erbebte unter dem wütenden Aufprall der Ranken.
    Kyra sprang auf, sah, wie ihre Freunde zur anderen Seite der Kuppel hinüberrannten und begann, dem Mann im Mond höhnische Rufe entgegenzuschleudern. Die anderen zögerten noch einen Augenblick, dann begann erst Lisa, schließlich auch Chris und Nils, ihren Gegner anzuschreien.
    Zum ersten Mal, seit er die Kuppel erreicht hatte, konnten sie ihn wieder sehen. Wie ein Schatten, der im Näherkommen auf einer Wand Gestalt annimmt, wuchs er über der Wölbung des Grabes empor. Seine Füße berührten den Stein, die Fangarme tanzten einen wilden Reigen um seine dürren Heuschreckenglieder.
    Kyra schloss zu den anderen auf. Gebannt beobachteten sie von der Kante des Grabes aus, wie der Mann im Mond die Kuppel überquerte. Seine ersten Schritte waren noch fest und siegessicher, dann aber sah es mit einem Mal aus, als kämpfe er um sein Gleichgewicht. Plötzlich rasten die Enden seiner Tentakel aufwärts, streckten sich elastisch wie Bungeeseile. Der Mann im Mond legte den Kopf in den Nacken, starrte in die Nacht hinauf, eine Geste grenzenloser Verwunderung.
    Die Gewitterfront hatte Giebelstein fast erreicht. In wenigen Augenblicken würden sich ihre Ausläufer vor den Mond schieben.
    Schneller!, dachte Kyra verbissen. Es muss schneller gehen!
    Der Mann im Mond, immer noch ein schwarzer Umriss, ein Schatten auf einer unsichtbaren Mauer, geriet in Bewegung. Aber es waren nicht seine Gelenke, die sich bewegten. Vielmehr schien seine ganze Form Wellen zu schlagen wie die Oberfläche eines pechschwarzen Sees.
    Seine Ränder
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