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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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eisig. »Sie hat dem Arkanum den Rücken gekehrt und uns bekämpft. Im Inneren war sie keine von uns und ist es nie gewesen.«
    »Könnte ich mächtiger sein als sie?«
    »Das wissen nur die Drei Mütter«, erwiderte die Hexe. Kyra war nicht sicher, ob das eine Floskel war, so wie gewöhnliche Menschen »Weiß der Himmel« sagen, oder ob die Hexe meinte, dass dieses Wissen tatsächlich nur die Drei Mütter besaßen.
    »Dein Gesang, wie funktioniert er?«, fragte Kyra und versuchte, dabei möglichst harmlos dreinzuschauen.
    Einen Moment lang sah es aus, als hätte sie den Bogen überspannt, denn Misstrauen geisterte wie ein Schatten über die Züge der Hexe.
    »Ich meine«, fügte Kyra hastig hinzu, »wenn ich eine von euch werden soll, hätte ich ganz gerne so eine Art Vorgeschmack.«
    Die Hexe musterte sie, immer noch voller Argwohn. Kyra fragte sich, ob sie wohl versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Deshalb bemühte sie sich, an nichts zu denken, das ihre wahren Gefühle verriet.
    Offenbar hatte sie Erfolg, denn die Züge der Hexe entspannten sich, und sie nickte. »Der Gesang schafft eine Verbindung«, sagte die Hexe nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Ja, so könnte man es wohl nennen. Ein Gespinst aus Zauberei, das sich vom Mond zur Erde spannt. Man könnte es mit Radiowellen vergleichen. Es gibt einen Sender und einen Empfänger, zwei Punkte, an denen die Mondmagie besonders stark ist – einer ist der Mond selbst, der andere ist hier in der Nähe. Auf den Mann im Mond wirkt diese Verbindung wie … sagen wir, wie ein Fahrstuhl.«
    »Wird er jetzt für immer hier bleiben müssen?«
    Die Hexe schüttelte den Kopf. »Nicht einmal das Arkanum ist so verderbt, einen solchen Schrecken heraufzubeschwören, ohne einen Weg zu kennen, ihn wieder loszuwerden. Nein, Kyra Rabenson, auch ein Fahrstuhl befördert seine Passagiere in beide Richtungen. Der Mann im Mond wird auf demselben Weg in seine Verbannung zurückkehren, auf dem er hierher gelangt ist.«
    »Und das weiß er auch?«
    Die Stirn der Hexe legte sich in Falten. »Du spielst doch nicht etwa mit der Idee, es ihm zu sagen?« Sie stieß ein hohes Lachen aus. »Kyra, Kyra, Kyra … Er versteht dich nicht. Er versteht niemanden. Sein Exil in den Schattentälern des Mondes hat ihm den Verstand geraubt. Nur meine Mondmagie zwingt ihn zum Gehorsam. Rede auf ihn ein, so viel du magst … vielleicht macht das den Schmerz erträglicher, wenn er dich in seine Dornenarme schließt.«
    Kyra wich einen Schritt zurück, dann einen zweiten.
    Die Hexe erhob sich in einer fließenden, ganz und gar nicht menschlichen Bewegung. Sie sah jetzt sehr beeindruckend aus, wie sie dort oben am Rand der Bühne stand, majestätisch wie eine Königin im Trauerflor.
    »Fast hättest du mich hereingelegt.« Die Hexe lächelte bösartig. »Leider steht auf den Versuch die Todesstrafe.«
    Ihre ausgestreckten Arme zeichneten ein glühendes Muster in die Luft, das für einige Sekunden in der Dunkelheit schwebte wie brennende Nebelschwaden. Die Hexe schloss ihre Augen, legte mit ausgebreiteten Armen den Kopf in den Nacken und stimmte einen leisen Gesang an. Sehr ruhig, sehr melodiös.
    Aber die vermeintliche Schönheit dieser Klänge täuschte. Dahinter verbarg sich ein schrecklicher Befehl.
    Hinter der Bühne, jenseits der schwarzen Stoffbahnen, rührte sich etwas. Ein Rasseln und Knistern und Bersten ertönte.
    Und Kyra begriff. Der Mann im Mond war die ganze Zeit hier gewesen. Hinter der Bühne. Nur wenige Meter von ihr entfernt.
    Er hatte gewartet. Darauf, dass die Hexe ihn rief. Bisher hatte er mit seinen Opfern nur gespielt. Jetzt aber machte er ernst.
    Wie eine Explosion schossen Dornenranken durch die Vorhänge in die Nacht hinaus, ein Sturm aus tödlichen Zweigen, der über die Bühne hinausfegte und sich dann zusammenballte wie eine Faust. Schnell wie ein hungriger Piranhaschwarm rasten die zuckenden Enden auf Kyra herab und warfen sich dabei wie ein stachliges Netz über die Bühne und die Hexe, die immer noch in ihrem Zentrum stand.
    Kyra fuhr herum und rannte.
    Hinter ihr wühlten die Dornententakel den Boden auf, als sie sich dort ins Gras bohrten, wo Kyra noch vor einem Augenblick gestanden hatte.
    »Lauft!«, schrie sie ihren drei Freunden zu, die voller Entsetzen vom anderen Ende der Wiese zusahen, wie Kyra vor den Fangarmen ihres Feindes davonrannte.
    Sie hörte, wie die Dornenranken hinter ihr das Erdreich durchpflügten, hundertmal machtvoller und kräftiger als bei den ersten
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