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Sieben Phantastische Geschichten

Sieben Phantastische Geschichten

Titel: Sieben Phantastische Geschichten
Autoren: J. G. Ballard
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Hüften herunter.
    Ich sah die durchgehende weiße Haut, die sich bis zu den prallen Hüften und den unverkennbaren Halbkugeln ihrer Gesäßbacken zog und erkannte, daß die Puppe vor mir die Nachbildung einer vollständigen Frau war und daß ihr Schöpfer auf die unsichtbaren Teile ihres Körpers genauso viel handwerkliches Geschick und Kunstfertigkeit verwandt hatte wie auf die sichtbaren.
    Der Reißverschluß hatte sich am unteren Ende seiner oxidierten Bahn verklemmt. Mein Kampf mit dem gelösten Kleid dieser halbnackten Frau hatte etwas Anstößiges. Meine Finger berührten ihre Haut am Kreuz und entfernten den Staub, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte.
    Diagonal vom Rückgrat zur Hüfte verlief die Haarlinie einer beträchtlichen Narbe. Ich nahm es als gegeben hin, daß das eine unbedingt notwendige Öffnung markierte, die für den Bau dieser Modelle erforderlich gewesen war.
    Die Reihen einander gegenüberliegender Stiche waren allzu offensichtlich. Ich erhob mich und beobachtete einige Augenblicke lang diese teilweise entkleidete Frau mit ihrem geneigten Kopf und den verschränkten Händen, die gelassen in den Kamin starrte.
    Sorgfältig bemüht, sie nicht zu beschädigen, löste ich das Mieder des Kleides. Die oberen Rundungen ihrer Brüste traten hervor, von den Schulterbändern eingeschnitten. Dann bemerkte ich, einige Zentimeter über der noch immer bedeckten linken Brustwarze, ein großes schwarzes Muttermal.
    Ich zog den Reißverschluß des Kleides hoch und glättete es sanft über ihren Schultern. Auf dem Teppich vor ihr niederkniend, blickte ich aus nächster Nähe in Serenas Gesicht, sah die kaum merklichen Falten am Scheitelpunkt des Mundes, die winzigen Adern in der Wange, eine Kindheitsnarbe unter dem Kinn. Ein merkwürdiges Gefühl des Abscheus und der Erregung überkam mich, als hätte ich an einem kannibalistischen Akt teilgenommen. Ich weiß jetzt, daß die Person, die auf ihrem goldenen Stuhl saß, keine Puppe war, sondern eine einst lebende Frau, ihre unvergleichliche Haut aufgespannt und auf immer von einem Meister präpariert, einem Meister nicht der Puppenmacherei, sondern der Taxidermie.
    In diesem Augenblick verliebte ich mich zutiefst in Serena Cockayne.
    Während des nächsten Monats wies meine Vernarrtheit in Serena die ganze Intensität auf, derer ein Mann in mittleren Jahren fähig ist. Ich kümmerte mich nicht um mein Büro, überließ es den Angestellten, selbst mit allem fertigzuwerden, und verbrachte meine ganze Zeit mit Serena, kümmerte mich um sie wie der pflichtschuldigste Liebhaber. Unter ungeheuren Kosten ließ ich in meinem Haus eine komplizierte Klimaanlage einbauen, von einem Typ, der nur in Kunstmuseen verwendet wird. In der Vergangenheit hatte ich Serena von einem warmen Zimmer in ein kaltes befördert, ohne einen Gedanken auf ihr Gesicht zu verschwenden, denn ich nahm an, es bestünde aus unempfindlichem Kunststoff, aber jetzt regelte ich sorgfältig die Temperatur und die Feuchtigkeit, denn ich war entschlossen, sie auf immer vor dem Verderb zu schützen. Ich stellte die Möbel im ganzen Haus um, damit ihre Arme und Schultern keinen blauen Fleck bekamen, wenn ich sie von Raum zu Raum trug. Am Morgen erwachte ich freudig und fand sie zu Füßen meines Bettes sitzen, dann holte ich sie zu mir an den Frühstückstisch. Den ganzen Tag über blieb sie in meiner Nähe und lächelte mir mit einem Ausdruck zu, der mich beinahe überzeugte, daß sie meine Gefühle erwiderte.
    Mein gesellschaftliches Leben gab ich ganz auf, stellte meine Dinnerpartys ein und traf nur wenige Freunde. Einen oder zwei Besucher ließ ich ein, aber nur, um ihren Verdacht zu zerstreuen. Während unserer kurzen und sinnlosen Gespräche beobachtete ich Serena am anderen Ende des Wohnzimmers mit all der Erregung, die eine verbotene Liebesaffäre auslösen kann.
    Weihnachten feierten wir allein. In Anbetracht von Serenas Jugend – zuweilen, wenn ich sie dabei ertappte, wie sie durch das Zimmer einem flüchtigen Gedanken nachblickte, wirkte sie wenig älter als ein Kind – beschloß ich, das Haus für sie auf herkömmliche Art herauszuputzen, mit einem geschmückten Baum, Palmwedeln, Bändern und Mistelzweigen. Nach und nach verwandelte ich die Zimmer in eine Reihe von Lauben, von denen aus sie den Vorsitz über unsere Feiern führte, wie die Madonna in einer Prozession von Altarbildern.
    Am Heiligen Abend brachte ich sie um Mitternacht in die Mitte des Wohnzimmers und legte ihr meine
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