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Sie nennen es Leben

Titel: Sie nennen es Leben
Autoren: Hannah Pilarczyk
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neuesten Spielereinkäufen der Fußball-Clubs zu checken.
    Viel stärker als bei anderen Medien hat der einzelne User beim Internet Einfluss darauf, wie er es nutzt. Das beginnt mit der Festlegung, welche Seite man als Startseite will, geht weiter über die Auswahl, was als Bookmark gespeichert wird, und setzt sich fast sekündlich mit der Entscheidung darüber fort, ob man auf einen Link klickt oder nicht. Hinzu kommt, dass das Angebot an Inhalten im Netz täglich wächst– man also jeden Tag neu darüber entscheiden muss, welchen Ausschnitt des Internet man heute nutzen will.
    Außerdem scheinen die vermeintlichen » digitalen Ureinwohner « in einer Gesellschaft zu leben, in der das soziale Umfeld keine Rolle spielt und es keinerlei Unterschied macht, ob die Eltern ein Oberarztgehalt oder Hartz IV beziehen. Der Erziehungswissenschaftler Uwe Bittlingmayer bringt diese Leerstelle in der Diskussion süffisant auf den Punkt, wenn er schreibt: » Es scheint so, als wenn sich in ›Wissensgesellschaften‹ alle sozialen Akteure selbst sozialisieren würden. «
    Die Netzdeuter wischen aber nicht nur über die Komplexität und Widersprüchlichkeit moderner Gesellschaften hinweg– zum Teil tragen sie mit ihrer Ungenauigkeit sogar noch zur Verschärfung von sozialen Konflikten bei. In Bereichen wie den Bildungschancen potenziert das Netz nämlich Ungleichheiten. Wer nur YouTube und Chats kennt, wird von smarten Usern, die Wikipedia nutzen und Stipendien recherchieren, abgehängt. Diese Nutzungsprofile hängen, wie gesehen, direkt damit zusammen, welchen Schultyp Kinder besuchen. Hinzu kommt, dass in Deutschland Bildung und soziale Herkunft eng verknüpft sind, Gymnasiasten also überdurchschnittlich häufig aus privilegierten Haushalten stammen. Die effektive Nutzung von Bildungschancen im Internet bleibt somit in der Regel den Kindern von Besserverdienenden vorbehalten.
    In der wissenschaftlichen Diskussion hat sich die Aufmerksamkeit deshalb weg von der » digitalen Spaltung « verlagert: Mittlerweile gilt das größte Augenmerk der » digital inequality « , der Ungleichheit im Netz (siehe dazu ausführlich Kapitel 3 ). In der öffentlichen Diskussion spielen die Erkenntnisse der Wissenschaft aber bislang keine Rolle. Fast scheint es, als wolle man gar nicht wissen, was Jugendliche im Netz tatsächlich tun. Letztlich drängt sich ein Umkehrschluss auf: Die Sorgen und Hoffnungen rund um die Digitalisierung sind vor allem etwas, das die Altersgruppe der Eltern eint. Sie spekuliert wild darüber, was Kinder und Jugendliche online machen und ist entweder zutiefst besorgt oder begeistert, ohne genau zu wissen worüber.
    Hat der Aufstieg digitaler Medien also gar keine Generation medienaffiner Kinder hervorgebracht– sondern vielmehr eine Generation medienfixierter Eltern?
    Medienpaniken und ihre Konjunkturen
    Um zu verstehen, warum über Jugendliche und das Internet so leidenschaftlich gestritten wird, muss man ein wenig in der Zeit zurückgehen– aber nicht viel, denn tatsächlich ist es nicht besonders lange her, dass westliche Gesellschaften anfingen, sich ihre Jugendlichen genauer anzusehen. Erst Anfang des 20 .Jahrhunderts, in enger Verbindung mit dem Aufstieg der » jungen Nation « USA zur Weltmacht, rückte die Jugend in den Mittelpunkt gesellschaftswissenschaftlicher Analysen. Die Vereinigten Staaten waren im doppelten Sinne » jung « : nicht nur lag die Staatsgründung kaum 120 Jahre zurück; die Nation erlebte darüber hinaus einen kaum begrenzten Zufluss junger Immigranten aus Europa, die Hunger und Arbeitslosigkeit über den Atlantik trieb. Gleichzeitig wurde Kinderarbeit zunehmend verpönt, längere Ausbildungszeiten für Heranwachsende wurden die Norm– und zwischen Kindheit und Arbeitsleben bildete sich nach und nach eine eigenständige Lebenszeit heraus: die Jugend.
    Schnell stürzten sich Wissenschaftler auf Jugendliche als Forschungsgegenstand und fingen an, ihnen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensmuster zuzuschreiben. Jugend » ist das Zeitalter der Gefühlsregung und Religion, der rapiden Stimmungsschwankungen, und die Welt erscheint seltsam und neu « , schwärmte der Pädagoge und Psychologe G. Stanley Hall 1904 in seinem Klassiker » Adolescence « , dem ersten Standardwerk zum Thema Jugend. Ebenso schnell entdeckten Werber Jugendliche als
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