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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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hinüberzuspringen. Die Entfernung war an sich nicht so groß, etwa elf bis zwölf Fuß, und ich hatte Leo als jungen Studenten über zwanzig Fuß weit springen sehen; doch man bedenke, in welcher Lage wir uns befanden! Zwei zutiefst erschöpfte Männer, der eine bereits jenseits der Vierziger, ein schwankender Stein als Sprungbrett, eine zitternde Felsspitze als Ziel, und ein bodenloser, von Sturm durchtobter Abgrund! Es war bei Gott schlimm genug; doch als ich Leo auf all dies hinwies, erwiderte er kurz und treffend, daß wir, so entsetzlich dies auch sein mochte, nur die Wahl hätten, mit Gewißheit in der Höhle eines langsamen Todes zu sterben oder zu springen und damit einen raschen Tod zu riskieren. Dagegen gab es freilich nichts zu sagen, doch eines stand fest: Wir durften den Sprung nicht im Dunkeln wagen, sondern mußten warten, bis der Lichtstrahl bei Sonnenuntergang durch den Felsen drang. Wie lange es noch bis zum Sonnenuntergang dauern würde, ahnten wir nicht; wir wußten nur, daß es, wenn der Strahl hereindrang, lediglich einige Minuten lang hell sein würde und daß wir deshalb jederzeit bereit sein mußten. So beschlossen wir, auf den schwankenden Stein zu klettern und dort zu warten, was sich allein schon deshalb als notwendig erwies, weil unsere Lampen wieder dem Erlöschen nahe waren – das heißt, die eine war bereits ausgegangen, und die andere flackerte nur noch schwach, wie es eine Flamme zu tun pflegt, wenn das Öl am Versiegen ist. So krochen wir denn im Scheine dieses schwachen Lichtes eilends aus der Höhle und erklommen den großen Stein.
    Kaum waren wir oben angelangt, erlosch die Lampe.
    Unsere Lage hatte sich auf diese Weise ganz wesentlich verändert. Unten in der kleinen Höhle hatten wir das Toben des Sturmes lediglich gehört – hier, bäuchlings auf dem schwankenden Stein liegend, waren wir seiner vollen Gewalt und Wut ausgesetzt. Bald brauste er aus dieser, bald aus jener Richtung durch den ungeheuren Abgrund und zwischen den Felsklippen heulend wie zehntausend verdammte Seelen. Stunde um Stunde lagen wir, von unbeschreiblicher Angst und Qual erfüllt, so da und lauschten den wilden Sturmstimmen jenes Tartarus, welche, abgestimmt auf den tiefen Unterton des Felssporns, auf dem der Wind spielte wie auf einer riesigen Harfe, von Wand zu Wand hallten. Kein Alptraum, der einen Menschen je gequält, nicht die wildeste Phantasie eines Dichters kann den Schrecknissen dieses Ortes, dem unheimlichen Kreischen jener nächtlichen Stimmen gleichkommen, das uns umtoste, als wir so gleich schiffbrüchigen Matrosen auf einem Floß in schwarzem, unergründlichem Dunkel uns dem Sturm entgegenstemmten. Zum Glück war es nicht allzu kalt, ja der Wind war sogar warm, denn sonst wären wir bald zu Tode erschöpft gewesen und umgekommen. Als wir so, fest uns aneinander klammernd, auf dem Stein lagen und lauschten, geschah plötzlich etwas überaus Seltsames, das, obgleich es sicher ein reiner Zufall war, die Anspannung unserer Nerven noch erhöhte.
    Man erinnert sich, daß der Sturm Ayesha, als wir vor Überquerung der Schlucht auf dem Felssporn standen, den Mantel entriß und fort in den Abgrund wehte. Es ist so seltsam, daß ich es kaum zu erzählen wage, doch als wir dort auf dem schwankenden Stein lagen, kam aus dem schwarzen Nichts gleich einer Botschaft von der Toten eben dieser Mantel geflogen und fiel auf Leo nieder, ihn nahezu vom Kopf bis zu den Füßen bedeckend. Zuerst erkannten wir nicht, was es war, doch durch Betasten stellten wir es alsbald fest, und zum erstenmal verlor Leo die Beherrschung, und ich hörte ihn schluchzen. Offenbar hatte sich der Mantel an irgendeinem Felsvorsprung verfangen, und ein Windstoß hatte ihn zu uns geweht; aber dennoch war es höchst merkwürdig und beeindruckend.
    Bald darauf durchstach ganz plötzlich der große rote Flammenspeer das Dunkel, streifte den schwankenden Stein, auf dem wir saßen, und berührte mit seiner glühenden Spitze den uns gegenüberliegenden Felssporn. »Auf«, sagte Leo, »jetzt oder nie.« Wir erhoben uns und blickten, uns streckend, auf die von dem Strahl blutrot gefärbten Nebelfetzen, welche durch den schwindelnden Abgrund fegten, und sodann auf die bodenlose Schlucht zwischen dem schwankenden Stein und dem zitternden Felssporn. Tiefe Verzweiflung packte uns, und wir wähnten uns dem Tod geweiht, denn dieser Sprung konnte nicht gelingen.
    »Wer zuerst?« fragte ich.
    »Du, alter Junge«, erwiderte Leo. »Ich will mich auf
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