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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiß überwunden; doch es ist mir nicht beschieden weiterzuleben. Meine Leiden, körperlich und geistig, übersteigen meine Kraft, und sobald ich alle Vorkehrungen für Dein künftiges Wohlergehen getroffen habe, gedenke ich ihnen ein Ende zu bereiten. Möge Gott mir verzeihen, falls ich unrecht handle. Doch mir ist ohnedies bestenfalls nur noch ein Jahr beschieden.«
     
    »Er hat also Selbstmord begangen«, rief ich aus. »Dacht' ich's mir doch!«
     
    »Doch nun genug von mir«, las Leo, ohne darauf einzugehen, weiter. »Was ich noch zu sagen habe, soll Dir, dem Lebenden, gelten – nicht mir, dem Toten, der schon so vergessen ist, als hätte er niemals gelebt. Mein Freund Holly (dem ich Dich, wenn er damit einverstanden ist, anvertrauen werde) wird Dir wohl von dem ungewöhnlich hohen Alter Deines Geschlechts erzählt haben. In diesem Kästchen findest Du genügend Beweise dafür. Die Scherbe mit der von Deiner fernen Ahne niedergeschriebenen Legende hat mir mein Vater auf seinem Totenbett übergeben, und seither hat sie unablässig meine Phantasie beschäftigt. Schon mit neunzehn Jahren beschloß ich, gleich einem unserer Vorfahren zur Zeit der Königin Elisabeth, den dieser Entschluß ins Unglück stürzte, ihr Geheimnis zu ergründen. Was ich dabei erlebte, kann ich hier nicht näher schildern, doch dies habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: An der Küste Afrikas, in einer bisher unerforschten Gegend nördlich der Sambesimündung, befindet sich ein Vorgebirge, an dessen äußerster Spitze ein Fels aufragt, der, ganz wie ihn die Inschrift schildert, die Form eines Negerkopfes hat. Als ich dort landete, erfuhr ich von einem umherziehenden Eingeborenen, der wegen eines Verbrechens von seinem Stamm ausgestoßen worden war, daß es tief im Landesinnern große becherförmige Gebirge und von endlosen Sümpfen umgebene Höhlen gibt. Er berichtete mir weiter, daß die Leute dort eine arabische Mundart sprechen und von einer schönen weißen Frau beherrscht werden, die sie nur selten zu Gesicht bekommen, die aber über alle Lebende und Tote Macht haben soll. Zwei Tage, nachdem er mir dies erzählt hatte, starb dieser Mann an einem Fieber, welches er sich beim Durchqueren der Sümpfe zugezogen hatte, und Mangel an Lebensmitteln und die Symptome einer Krankheit, die mich später aufs Lager warf, zwangen mich, zu meiner Dhau zurückzukehren.
    Von den Abenteuern, die ich danach erlebte, will ich hier nicht sprechen. An der Küste Madagaskars erlitt ich Schiffbruch und wurde nach einigen Monaten von einem englischen Schiff gerettet, das mich nach Aden brachte. Von dort begab ich mich in der Absicht, nach gründlichen Vorbereitungen meine Expedition fortzusetzen, nach England. Unterwegs machte ich in Griechenland Station, wo ich – ›omnia vincit amor‹ – Deine geliebte Mutter kennenlernte und heiratete, wo Du geboren wurdest und sie starb. Damals befiel mich meine jetzige Krankheit, und ich kehrte nach England zurück, um zu sterben. Trotz allem gab ich die Hoffnung jedoch nicht auf und begann Arabisch zu lernen, um, falls ich doch wieder gesunden sollte, wieder nach Afrika zu gehen und das Rätsel, das so viele Jahrhunderte in unserer Familie überliefert wurde, zu lösen. Ich bin jedoch nicht gesund geworden, und damit ist die Geschichte für mich zu Ende.
    Nun liegt alles an Dir, mein Sohn, und so übergebe ich Dir die Ergebnisse meiner Arbeit und die er erbten Beweise für ihren Ursprung. Ich werde Vorsorge treffen, daß sie erst in Deine Hände gelangen, wenn Du ein Alter erreicht hast, in dem Du imstande sein wirst zu entscheiden, ob Du das größte Rätsel der Welt entschleiern oder das Ganze als eine dumme Fabel, entsprungen dem zerrütteten Gehirn einer Frau, abtun willst.
    Ich glaube nicht, daß es eine Fabel ist; ich glaube, daß es einen Ort gibt, wo die Lebenskräfte der Welt sichtbar existieren, und daß dieser Ort aufzuspüren ist. Das Leben gibt es; warum sollte es nicht auch Mittel geben, es unendlich zu verlängern? Ich
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