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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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möchte Dich jedoch keineswegs beeinflussen. Lies und urteile selbst. Entschließest Du Dich, das Rätsel zu lösen, so habe ich dafür gesorgt, daß Dir die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Solltest Du jedoch zu der Überzeugung gelangen, daß das Ganze eine Schimäre ist, so beschwöre ich Dich, vernichte die Scherbe und die Schriften und erlöse dadurch unser Geschlecht für immer von diesem unseligen Erbe. Vielleicht wäre es das klügste. Das Unbekannte gilt stets als schrecklich, nicht weil die Menschen von Geburt abergläubisch sind, sondern weil es oft in der Tat schrecklich ist. Wer sich mit den ungeheuren geheimen Kräften, welche die Welt beleben, befaßt, kann ihnen leicht zum Opfer fallen. Und wenn Du das Ziel erreichen solltest, wenn Du aus dieser Prüfung in ewiger Jugend und Schönheit, gefeit gegen Zeit und Leid, enthoben dem natürlichen Verfall von Fleisch und Geist, hervorgehen solltest – wer vermag zu sagen, ob Dir dies zum Glück gereichen würde? Wähle, mein Sohn, und möge die Macht, die alle Dinge lenkt und die da sagt: ›Bis hierher und nicht weiter!‹ Deine Wahl zum Glück für Dich und die Welt lenken, die Du, falls Du Erfolg hast, eines Tages gewiß allein durch die Kraft Deiner ungeheuren Erfahrung beherrschen würdest. – Lebe wohl!«
     
    So endete jäh der Brief, der keine Unterschrift und kein Datum trug.
    »Was hältst du davon, Onkel Holly?« sagte Leo mit bebender Stimme, als er ihn auf den Tisch legte. »Wir haben ein Geheimnis erwartet; nun haben wir, scheint's, eins gefunden!«
    »Was ich davon halte? Offen gesagt – daß dein armer Vater nicht ganz bei Verstand war«, erwiderte ich gereizt. »Ich dachte mir das schon an jenem Abend vor zwanzig Jahren, als er in mein Zimmer trat. Du siehst ja selbst, der Arme hat sein Ende selbst beschleunigt. Es ist der reinste Unsinn.«
    »Ganz recht, Sir«, sagte feierlich Job, der ein höchst nüchterner Wirklichkeitsmensch war.
    »Nun, immerhin sollten wir nachsehen, was auf der Scherbe steht«, sagte Leo, nahm die von seinem Vater stammende Übersetzung und las vor:
    »Ich, Amenartas, aus dem Königlichen Hause der Pharaonen Ägyptens, Frau des Kallikrates (des durch Schönheit Starken), eines Priesters der Isis, welche die Götter lieben und die Dämonen fürchten, verkünde, dem Tode nahe, meinem kleinen Sohn Tisisthenes (dem Mächtigen Rächer): Ich floh mit Deinem Vater in den Tagen des Nectanebes * aus Ägypten und bewog ihn, aus Liebe zu mir sein Gelübde zu brechen. Wir flohen südwärts übers Meer und wanderten zweimal zwölf Monde an der Küste Libyens (Afrika), die der aufgehenden Sonne zugewandt ist und wo an einem Flusse sich ein großer Fels erhebt, geformt wie der Kopf eines Äthiopiers. Vier Tage weit von der Mündung des Flusses erlitten wir Schiffbruch. Einige ertranken, andere erkrankten und starben. Uns beide jedoch führten wilde Männer durch Wüsten und Sümpfe, über denen Schwärme von Seevögeln den Himmel verdunkelten, und nach zehn Tagen gelangten wir an einen hohlen Berg, wo die Ruinen einer großen Stadt stehen und wo es Höhlen gibt, deren Ende noch kein Mensch gesehen hat; und sie brachten uns zur Königin des Volkes, das Fremden Töpfe auf die Köpfe setzt, einer Zauberin, die um alle Dinge weiß und deren Leben und Schönheit ewig ist. Und sie blickte auf deinen Vater Kallikrates mit Augen der Liebe und wollte mich töten und ihn zum Manne nehmen, doch er liebte mich und fürchtete sie und wies sie ab. Da führte sie uns durch schwarze Magie auf schrecklichen Wegen zu der großen Schlucht, an deren Eingang tot der alte Philosoph lag, und zeigte uns die Flammensäule des Lebens, die nie erlischt und deren Stimme die Stimme des Donners ist; und sie trat in die Flammen und trat unversehrt und noch schöner daraus hervor. Dann schwor sie, deinen Vater unsterblich wie sich selbst zu machen, wenn er mich tötete und sie zum Weibe nähme, denn mich konnte sie nicht töten, weil sie gegen die Zauberkraft meines Volkes machtlos war. Und er hielt seine Hand vor die Augen, um ihre Schönheit nicht zu sehen, und widerstand ihr. Da tötete sie ihn in ihrem Zorn mit ihrer Zauberkraft; doch dann weinte sie um ihn und trug ihn fort mit lauten Klagen. Da sie mich fürchtete, schickte sie mich zur Mündung des großen Flusses, wohin die Schiffe kommen, und auf einem dieser Schiffe, das mich weit forttrug, wurdest Du geboren, und nach vielen Wanderungen kam ich endlich nach Athen. Nun sage ich Dir, mein
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