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Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)

Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)

Titel: Die Flakhelfer: Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden (German Edition)
Autoren: Malte Herwig
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Prolog
    Dies ist keine Familiengeschichte, aber es könnte eine sein. Unser aller Familiengeschichte, die wir in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind. Noch ist es nicht zu spät, Fragen zu stellen. Noch leben die letzten Angehörigen der Flakhelfer-Generation. Es sind unsere Väter und Großväter, und sie haben die Bundesrepublik geprägt: als Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, Juristen.
    Beginnen wir also doch mit einer Familiengeschichte. Die Flakhelfer sind mir nah. Mein Vater, Jahrgang 1927, war einer. Heute ist er 86, so alt wie Günter Grass, Hans-Dietrich Genscher, Martin Walser. Mein Großvater Walter Herwig wurde 1880 in Kassel geboren, fast hundert Jahre vor mir. Lauter späte Väter. So haben die Herwigs eine Generation übersprungen, und ich wurde in Hörweite des 19. Jahrhunderts geboren.
    Mein Vater kam in der Weimarer Republik zur Welt, aber sein Elternhaus war nicht nur politisch in den Koordinaten des Kaiserreichs verankert. Die großbürgerliche Siebenzimmerwohnung lag direkt am Kaiserplatz im Hohenzollernviertel der ehemaligen Residenzstadt Kassel. Mein Großvater konnte sich zwar nicht mehr »Kaiserlicher Hofspediteur« nennen, da es mit dem deutschen Kaiser – der früher gern auf Schloss Wilhelmshöhe und im Kasseler Staatstheater Hof gehalten hatte – zu seinem Bedauern längst vorbei war. Aber das Speditionsgeschäft florierte auch dank der Firmenbeziehungen nach Übersee, die Walter Herwig 1929 den Titel eines Honorarkonsuls von Peru eingebracht hatten. Bevor Hakenkreuzflaggen in Mode kamen, schmückte der Konsul seine Maybach-Limousine am peruanischen Nationalfeiertag mit den Standarten des südamerikanischen Landes und der Weimarer Republik.
    Es war eine friedliche Zeit. Vom Fenster im dritten Stock konnte mein Vater als Kind den Klängen der ehemaligen Militärkapelle lauschen, die im Konzertpavillon vor dem Haus »heitere und leichte Tonschöpfungen« spielte. 1
    Sie spielte bis 1934. Dann zogen die neuen Machthaber andere Saiten auf. Die Nationalsozialisten rissen den Pavillon ab, um Platz für eine Tribüne zu schaffen. Fortan wurden dort am Reichskriegertag Paraden abgehalten. Es schien nur folgerichtig, dass die zukünftigen Kriegsherren den Kaiserplatz 1938 nach einer Schlacht benannten und ihn zum Skagerrakplatz umtauften.
    So stand mein Vater mit einem Bein noch in der Kaiserzeit, während er mit dem anderen schon ins »Dritte Reich« marschieren musste. Ein Foto aus den 1930er Jahren zeigt den kleinen Günter Herwig auf der Straße, wie er brav in die Kamera lächelt und den rechten Arm zum Hitlergruß hebt. Darunter hatte meine Großmutter ins Album geschrieben: »Zum ersten Mal ›Heil Hitler‹«. Wusste er, was das bedeutet?
    Am 1. Dezember 1937 wurde der Zehnjährige ins Jungvolk aufgenommen. Dort sollten aus kleinen Jungen Hitlers Helden gezüchtet werden. Aber mein Vater war kein Heldenmaterial. Er war zu faul und selbstgenügsam, um sich für das mit Marschieren und Indoktrinieren beschäftigte »Dritte Reich« zu begeistern. 1938 informierte das Gymnasium meine Großmutter in einem blauen Brief, ihr Sohn sei selbstzufrieden und träge, seine Anteilnahme lasse in jeder Hinsicht zu wünschen übrig: »Meist sitzt er rosig und satt in seiner Bank und scheint mit allem zufrieden. Ermahnungen erschüttern ihn nicht weiter.« Gezeichnet: »Heil Hitler! Der Klassenleiter«. 2
    Nicht, dass der junge Günter einen inneren Widerspruch zur herrschenden Ideologie spürte. Sie kümmerte ihn einfach nicht. Auch am Marschieren fand mein Vater keinen Gefallen und kam 1943 vor ein Gericht der Hitlerjugend, weil er sich beim Abmarsch nach einem Appell ohne Erlaubnis verdrückt hatte. Theater gefiel ihm, aber nicht das Theater der Braunhemden. Dem Strafbescheid der Hitlerjugend Kurhessen zufolge gab er als Entschuldigung an, sich bei einem Laienspiel den Fuß verstaucht und deshalb aus der Marschformation ausgeschert zu sein. Sein eigenmächtiger Abmarsch wurde glimpflich geahndet: Verwarnung »für die Dauer des Krieges«.
    Dieser Krieg hätte ihn um ein Haar noch erwischt, wenn er länger gedauert hätte. Nach Reichsarbeitsdienst und Flakhelferzeit bekam mein Vater im Januar 1945 einen Brief, der ihn zur Aufnahmeprüfung als Reserveoffiziersbewerber der Kriegsmarine nach Wien beorderte. Der Untergang des Deutschen Reichs war nur noch eine Frage von wenigen Monaten, die deutschen Armeen zogen sich an allen Fronten zurück, und Wien lag nicht einmal an der Küste.
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