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Siddharta

Siddharta

Titel: Siddharta
Autoren: Hermann Hesse
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lauschte, im Staub der Straße,
    lauschte seinem Herzen, wie es müd und traurig ging, wartete
    auf eine Stimme. Manche Stunde kauerte er lauschend, sah
    keine Bilder mehr, sank in die Leere, ließ sich sinken, ohne
    einen Weg zu sehen. Und wenn er die Wunde brennen fühlte,
    sprach er lautlos das Om, füllte sich mit Om. Die Mönche im
    Garten sahen ihn, und da er viele Stunden kauerte und auf
    seinen grauen Haaren der Staub sich sammelte, kam einer
    gegangen und legte zwei Pisangfrüchte vor ihm nieder. Der
    Alte sah ihn nicht.
    Aus dieser Erstarrung weckte ihn eine Hand, welche seine
    Schulter berührte. Alsbald erkannte er diese Berührung, die
    zarte, schamhafte, und kam zu sich. Er erhob sich und be-
    grüßte Vasudeva, welcher ihm nachgegangen war. Und da er
    in Vasudevas freundliches Gesicht schaute, in die kleinen, wie
    mit lauter Lächeln ausgefüllten Falten, in die heiteren Augen,
    da lächelte auch er. Er sah nun die Pisangfrüchte vor sich
    liegen, hob sie auf, gab eine dem Fährmann, aß selbst die
    andere. Darauf ging er schweigend mit Vasudeva in den Wald
    zurück, kehrte zur Fähre heim. Keiner sprach von dem, was
    heute geschehen war, keiner nannte den Namen des Knaben,
    keiner sprach von seiner Flucht, keiner sprach von der Wunde.
    In der Hütte legte sich Siddhartha auf sein Lager, und da nach
    einer Weile Vasudeva zu ihm trat, um ihm eine Schale
    Kokosmilch anzubieten, fand er ihn schon schlafend.
    Om
    Lange noch brannte die Wunde. Manchen Reisenden mußte
    Siddhartha über den Fluß setzen, der einen Sohn oder eine
    Tochter bei sich hatte, und keinen von ihnen sah er, ohne daß
    er ihn beneidete, ohne daß er dachte: »So viele, so viel
    Tausende besitzen dies holdeste Glück - warum ich nicht?
    Auch böse Menschen, auch Diebe und Räuber haben Kinder,
    und lieben sie, und werden von ihnen geliebt, nur ich
    nicht.« So einfach, so ohne Verstand dachte er nun, so ähn-
    lich war er den Kindermenschen geworden.
    Anders sah er jetzt die Menschen an als früher, weniger
    klug, weniger stolz, dafür wärmer, dafür neugieriger, betei-
    ligter. Wenn er Reisende der gewöhnlichen Art übersetzte,
    Kindermenschen, Geschäftsleute, Krieger, Weibervolk, so
    erschienen diese Leute ihm nicht fremd wie einst: er verstand
    sie, er verstand und teilte ihr nicht von Gedanken und Ein-
    sichten, sondern einzig von Trieben und Wünschen geleitetes
    Leben, er fühlte sich wie sie. Obwohl er nahe der Vollendung
    war, und an seiner letzten Wunde trug, schien ihm doch,
    diese Kindermenschen seien seine Brüder, ihre Eitelkeiten,
    Begehrlichkeiten und Lächerlichkeiten verloren das Lächerliche
    für ihn, wurden begreiflich, wurden liebenswert, wurden ihm
    sogar verehrungswürdig. Die blinde Liebe einer Mutter zu
    ihrem Kind, den dummen, blinden Stolz eines eingebildeten
    Vaters auf sein einziges Söhnlein, das blinde, wilde Streben
    nach Schmuck und nach bewundernden Männeraugen bei
    einem jungen, eitlen Weibe, alle diese Triebe, alle diese
    Kindereien, alle diese einfachen, törichten, aber ungeheuer
    starken, stark lebenden, stark sich durchsetzenden Triebe und
    Begehrlichkeiten waren für Siddhartha jetzt keine Kindereien
    mehr, er sah um ihretwillen die Menschen leben, sah sie um
    ihretwillen Unendliches leisten, Reisen tun, Kriege führen,
    Unendliches leiden, Unendliches ertragen, und er konnte sie
    dafür lieben, er sah das Leben, das Lebendige, das
    Unzerstörbare, das Brahman in jeder ihrer Leidenschaften,
    jeder ihrer Taten. Liebenswert und bewundernswert waren
    diese Menschen in ihrer blinden Treue, ihrer blinden Stärke
    und Zähigkeit. Nichts fehlte ihnen, nichts hatte der Wissende
    und Denker vor ihnen voraus als eine einzige Kleinigkeit, eine
    einzige winzige kleine Sache: das Bewußtsein, den bewußten
    Gedanken der Einheit alles Lebens. Und Siddhartha zweifelte
    sogar zu mancher Stunde, ob dies Wissen, dieser Gedanke so
    sehr hoch zu werten, ob nicht auch er vielleicht eine
    Kinderei der Denkmenschen, der
    Denk-Kindermenschen sein möchte. In allem ändern waren
    die Weltmenschen dem Weisen ebenbürtig, waren ihm oft
    weit überlegen, wie ja auch Tiere in ihrem zähen, unbeirrten
    Tun des Notwendigen in manchen Augenblicken den Men-
    schen überlegen scheinen können.
    Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis,
    das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines
    langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft
    der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst,
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