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Siddharta

Siddharta

Titel: Siddharta
Autoren: Hermann Hesse
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seinem
    Herzen war, neigte er sich nochmals zu Siddhartha, von
    Liebe gezogen. Tief verneigte er sich vor dem ruhig Sitzenden.
    »Siddhartha«, sprach er, »wir sind alte Männer geworden.
    Schwerlich wird einer von uns den ändern in dieser Gestalt
    wiedersehen. Ich sehe, Geliebter, daß du den Frieden gefunden
    hast. Ich bekenne, ihn nicht gefunden zu haben. Sage mir,
    Verehrter, noch ein Wort, gib mir etwas mit, das ich fassen, das ich verstehen kann! Gib mir etwas mit auf meinen Weg. Er
    ist oft beschwerlich, mein Weg, oft finster, Siddhartha.«
    Siddhartha schwieg und blickte ihn mit dem immer glei-
    chen, stillen Lächeln an. Starr blickte ihm Govinda ins Ge-
    sicht, mit Angst, mit Sehnsucht. Leid und ewiges Suchen
    stand in seinem Blick geschrieben, ewiges Nichtfmden.
    Siddhartha sah es und lächelte.
    »Neige dich zu mir!« flüsterte er leise in Govindas Ohr.
    »Neige dich zu mir her! So, noch näher! Ganz nahe! Küsse
    mich auf die Stirn, Govinda!«
    Während aber Govinda verwundert, und dennoch von
    großer Liebe und Ahnung gezogen, seinen Worten gehorchte,
    sich nahe zu ihm neigte und seine Stirn mit den Lippen
    berührte, geschah ihm etwas Wunderbares. Während seine
    Gedanken noch bei Siddharthas wunderlichen Worten
    verweilten, während er sich noch vergeblich und mit Wider-
    streben bemühte, sich die Zeit hinwegzudenken, sich Nirwana
    und Sansara als Eines vorzustellen, während sogar eine gewisse
    Verachtung für die Worte des Freundes in ihm mit einer
    ungeheuren Liebe und Ehrfurcht stritt, geschah ihm dieses:
    Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er
    sah statt dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und vergingen, und doch alle zu-
    gleich dazusein schienen, welche alle sich beständig ver-
    änderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha
    waren. Er sah das Gesicht eines Fisches, eines Karpfens, mit
    unendlich schmerzvoll geöffnetem Maule, eines sterbenden
    Fisches, mit brechenden Augen - er sah das Gesicht eines
    neugeborenen Kindes, rot und voll Falten, zum Weinen ver-
    zogen - er sah das Gesicht eines Mörders, sah ihn ein Messer in den Leib eines Menschen stechen - er sah, zur selben Sekunde,
    diesen Verbrecher gefesselt knien und sein Haupt vom Henker
    mit einem Schwertschlag abgeschlagen werden — er sah die
    Körper von Männern und Frauen nackt in Stellungen und
    Kämpfen rasender Liebe - er sah Leichen ausgestreckt, still,
    kalt, leer - er sah Tierköpfe, von Ebern, von Krokodilen, von
    Elefanten, von Stieren, von Vögeln - er sah Götter, sah
    Krischna, sah Agni - er sah alle diese Gestalten und Gesichter
    in tausend Beziehungen zueinander, jede der ändern helfend,
    sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich schmerzliches
    Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch, jede
    verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein
    neues Gesicht, ohne daß doch zwischen einem und dem
    anderen Gesicht Zeit gelegen wäre -
    und alle diese Gestalten und Gesichter ruhten, flössen, er-
    zeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander,
    und über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses, den-
    noch Seiendes, wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, wie
    eine durchsichtige Haut, eine Schale oder Form oder Maske
    von Wasser, und diese Maske lächelte, und diese Maske war
    Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda, in eben diesem selben Augenblick mit den Lippen berührte. Und, so sah
    Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit
    über den strömenden Gestaltungen, dies Lächeln der Gleich-
    zeitigkeit über den tausend Geburten und Toden, dies Lächeln
    Siddharthas war genau dasselbe, war genau das gleiche, stille,
    feine, undurchdringliche, vielleicht gütige, vielleicht
    spöttische, weise, tausendfältige Lächeln Gotamas, des Bud-
    dha, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte.
    So, das wußte Govinda, lächelten die Vollendeten.
    Nicht mehr wissend, ob es Zeit gebe, ob diese Schauung
    eine Sekunde oder hundert Jahre gewährt habe, nicht mehr
    wissend, ob es einen Siddhartha, ob es einen Gotama, ob es
    Ich und Du gebe, im Innersten wie von einem göttlichen
    Pfeile verwundet, dessen Verwundung süß schmeckt, im In-
    nersten verzaubert und aufgelöst, stand Govinda noch eine
    kleine Weile, über Siddharthas stilles Gesicht gebeugt, das
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