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Siddharta

Siddharta

Titel: Siddharta
Autoren: Hermann Hesse
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während Siddhartha aufhörte, an sich
    und an seine Wunde zu denken, nahm diese Erkenntnis vom
    veränderten Wesen des Vasudeva von ihm Besitz, undje mehr
    er es empfand und darein eindrang, desto weniger wunderlich
    wurde es, desto mehr sah er ein, daß alles in Ordnung und
    natürlich war, daß Vasudeva schon lange, beinahe schon
    immer so gewesen sei, daß nur er selbst es nicht ganz erkannt
    hatte, ja daß er selbst von jenem kaum noch verschieden sei. Er empfand, daß er den alten Vasudeva nun so sehe, wie das Volk
    die Götter sieht, und daß dies nicht von Dauer sein könne; er
    begann im Herzen von Vasudeva Abschied zu nehmen. Dabei
    sprach er immerfort.
    Als er zu Ende gesprochen hatte, richtete Vasudeva seinen
    freundlichen, etwas schwach gewordenen Blick auf ihn,
    sprach nicht, strahlte ihm schweigend Liebe und Heiterkeit
    entgegen, Verständnis und Wissen. Er nahm Siddharthas
    Hand, führte ihn zum Sitz am Ufer, setzte sich mit ihm nieder,
    lächelte dem Flusse zu.
    »Du hast ihn lachen hören«, sagte er. »Aber du hast nicht
    alles gehört. Laß uns lauschen, du wirst mehr hören.«
    Sie lauschten. Sanft klang der vielstimmige Gesang des
    Flusses. Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden
    Wasser erschienen ihm Bilder: sein Vater erschien, einsam,
    um den Sohn trauernd, er selbst erschien, einsam, auch er mit
    den Banden der Sehnsucht an den fernen Sohn gebunden; es
    erschien sein Sohn, einsam auch er, der Knabe, begehrlich
    auf der brennenden Bahn seiner jungen Wünsche stürmend,
    jeder auf sein Ziel gerichtet, jeder vom Ziel besessen, jeder
    leidend. Der Fluß sang mit einer Stimme des Leidens, sehnlich
    sang er, sehnlich floß er seinem Ziele zu, klagend klang seine
    Stimme.
    »Hörst du?« fragte Vasudevas stummer Blick. Siddhartha
    nickte.
    »Höre besser!« flüsterte Vasudeva.
    Siddhartha bemühte sich, besser zu hören. Das Bild des
    Vaters, sein eigenes Bild, das Bild des Sohnes flössen ineinan-
    der, auch Kamalas Bild erschien und zerfloß, und das Bild
    Govindas, und andere Bilder, und flössen ineinander über,
    wurden alle zum Fluß, strebten alle als Fluß dem Ziele zu,
    sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses Stimme klang
    voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von unstill-
    barem Verlangen. Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha
    sah ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus
    allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem
    Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meere, und alle
    Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus
    dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Re-
    gen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward
    Bach, ward Fluß, strebte aufs neue, floß aufs neue. Aber die
    sehnliche Stimme hatte sich verändert. Noch tönte sie, leid-
    voll, suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr,
    Stimmen der Freude und des Leides, gute und böse Stimmen,
    lachende und trauernde, hundert Stimmen, tausend Stim-
    men.
    Siddhartha lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins
    Zuhören vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß
    er nun das Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er
    all dies gehört, diese vielen Stimmen im Fluß, heute klang es
    neu. Schon konnte er die vielen Stimmen nicht mehr unter-
    scheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von
    männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehn-
    sucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen
    der Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben
    und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles
    zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Lei-
    den, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die
    Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die
    Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem
    Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht
    auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele
    nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie
    einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm,
    dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem
    einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung.
    »Hörst du?« fragte wieder Vasudevas Blick.
    Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln seines
    alten Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den
    Stimmen des Flusses das Om schwebte. Hell glänzte sein Lä-
    cheln, als er den
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