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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einer der ersten, die mit dem Auftrag in dieses Gebiet gekommen waren, die Bodenverhältnisse zwischen Tobolsk und dem Unterlauf des Tobol zu untersuchen und die beste Lage dieses Kanalstückes in einer genauen Expertise zu bestimmen. Seit über einem Jahr lebte er nun in diesem Gebiet, korrigierte gewissenhaft den Moskauer Generalplan, zog mit seinen Trupps durchs Land und stand in ständiger Verbindung mit dem Direktor des Instituts für Wasserprobleme in Moskau, dem korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Genosse Grigori Woropajew, so hatte er sich einen vorzüglichen Ruf erarbeitet, war oftmals gelobt worden und konnte für die Zukunft damit rechnen, Projektleiter eines großen Abschnittes des Sib-Aral-Kanals zu werden.
    Vor einem halben Jahr, als das Barackenlager fertiggestellt war, das er – wie schon gesagt – nach seiner Heimatstadt Nowo Gorodjina nannte, ließ er mit Erlaubnis der oberen Behörden in Moskau seine Familie nachkommen. Olga Walerinowna, seine Frau, und Walja Borisowna, seine Tochter. Eine große Auszeichnung war das und auch ein Beweis, daß Schemjakin am Tobol bleiben würde.
    Wer dem Töchterchen Walja gegenüberstand, der erinnerte sich an die Gemälde des feudalen Rußlands, an jene Darstellungen zartgliedriger adeliger Damen, deren Schönheit fast unwirklich schien. Nicht anders wirkte Walja. Ganz gleich, welche Kleidung sie trug: ob in Hosen und Reitstiefeln aus weichem, anschmiegsamem Juchtenleder, ob im bäuerlichen Rock mit Bluse oder in lehmdreckigen Gummistiefeln und einer Regenhaut – immer konnte man sie bewundernd ansehen und sich die Frage stellen: Wie kann ein Mensch so schön sein?!
    Ein kluges Mädchen war sie zudem auch noch. In Minsk hatte sie studiert – Medizin mit dem Spezialfach Unfallkunde – und mit vierundzwanzig Jahren war sie eine der jüngsten Prüflinge. Ihr Examen bestand sie mit Auszeichnung. Ein Diplom hatte sie bekommen, das jetzt in Nowo Gorodjina an der Wand ihres Zimmers hing; es besagte, daß sie eine Ärztin sei und jedermann behandeln könnte. Als Boris Igorowitsch seine Familie in das Barackendorf östlich des Tobol rief, zögerte sie keine Stunde und schloß sich ihrer Mutter an.
    »Menschen, denen man helfen kann, gibt es überall«, sagte sie selbstbewußt. »Und gerade dort, in der Wildnis der Sümpfe, Seen und Wälder, wird man eine Ärztin brauchen.«
    Das war nicht einfach so dahergeredet. Schon gleich nach ihrem Eintreffen in Nowo Gorodjina, in der nächsten Woche bereits, fuhr sie mit einem Geländewagen zu den umliegenden Dörfern am Rand der Sümpfe und in den Niederungen des Tobol, in die Wälder und das weit auseinandergezogene Seengebiet. Auch nach Lebedewka war sie gekommen, hatte mit dem Dorfvorsteher Korolew gesprochen. Am Abend waren die Lebedewkaner in die Stolowaja bestellt worden, um einen Vortrag der Genossin Ärztin anzuhören, aber siehe da: Niemand war gekommen. Nur Korolew, sein Enkelsohn – der Schmiedelehrling – und der Pope Schagin saßen wie ausgestoßen herum und suchten nach Worten, die fatale Situation zu erklären.
    »Mißtrauisch sind sie, unsere Brüderchen«, sagte Schagin, und die beiden anderen nickten dazu heftig. »Alles, was von draußen kommt … Mißtrauen. Und wer bist du, Genossin? Die Tochter von Schemjakin, dem Ingenieur, der unser Land zerstückeln will. Jeder wird's verstehen: Nicht einen einzigen Ton wollen wir von ihr hören. Und wenn wir alle krank in unseren Häusern lägen … unseren Tee trinken wir dann, zermahlen Heilkräuter wie vor hundert Jahren, mahlen Wurzeln und brauen Säfte, schmieren uns mit Kräutersalben ein und beten. Bisher hat's immer geholfen, Genossin Ärztin. In Lebedewka werden die Menschen alt. Geh mal durchs Dorf: Soviel Greise hast du auf einem Haufen noch nicht gesehen. Liegt's an der Luft, am Boden, am Wasser? Wer weiß es! Ja, und einmal im Monat kommt von Tjumen herüber ein Sanitätsauto, so eine fahrbare Klinik, das kennst du ja. Die steht dann vor der Kirche auf dem Platz, ein Arzt ist dabei und drei saubere Schwestern in weißen Häubchen und weißen Kitteln, und dann werden die Kranken geröntgt, bestrahlt und mit Medikamenten behandelt, Zähne gezogen und Furunkel aufgeschnitten – aber zwei Tage später sind sie wieder weg, die Weißkittel. Grigori Valentinowitsch«, er zeigte auf Korolew, »hat dann seine Schublade wieder voll mit Medikamenten. Wer etwas ganz Besonderes braucht, geht zu ihm.«
    »So ist es«, sagte Korolew
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