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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Autoren: Nicholas Meyer
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gekleidet, wie ein Akademiker, der an den Tumult der realen Welt außerhalb seines Elfenbeinturms nicht gewöhnt ist. Er hätte in ein Kloster gepaßt, in dem seine kurzsichtigen Augen keine andere Aufgabe gehabt hätten, als uralte Pergamente zu studieren und ihren Inhalt zu entziffern. Sein Kopf verstärkte diesen Eindruck. Er war beinahe vollkommen kahl, mit feinen Büscheln weißgrauen Haares um den Hinterkopf und Schläfen.
    »Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Ungelegenheiten bereitet, weil ich Ihr Sprechzimmer in Anspruch genommen habe«, sagte er mit ruhiger, aber besorgter Stimme. »Die Sache ist äußerst dringend und persönlich, und es waren Sie, nicht Dr. – äh – Cullingworth, den ich –«
    »Ganz recht, ganz recht«, unterbrach ich ihn mit einer Schärfe, die ihn offensichtlich erschreckte. »Bitte kommen wir zur Sache. Um was handelt es sich?« fuhr ich etwas freundlicher fort, bedeutete ihm, sich wieder zu setzen, und zog mir einen Stuhl heran.
    »Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll.« Er hatte die irritierende Angewohnheit, beim Sprechen seinen Hut in den Händen zu drehen. Ich versuchte, in ihm zu sehen, was Holmes beschrieben hatte – einen brillanten, diabolischen Schurken, der bewegungslos im Zentrum eines ungeheuerlichen Netzes übelster Konspirationen saß. Seine Erscheinung und sein Benehmen waren dabei nicht sehr hilfreich.
    »Ich bin zu Ihnen gekommen«, sagte der Professor mit unerwartetem Nachdruck, »weil ich Ihren Veröffentlichungen entnommen haben, daß Sie Mr. Sherlock Holmes’ intimster Bekannter sind.«
    »Ich habe diese Ehre«, erwiderte ich kühl mit einem flüchtigen Kopfnicken. Ich war entschlossen, auf der Hut zu sein, denn obwohl mir sein Äußeres harmlos erschien, war ich nicht bereit, mich dadurch irreführen zu lassen.
    »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll«, fuhr er fort, immer noch den Hut drehend, »aber Mr. Holmes – nun, ich glaube, er verfolgt mich, ist das rechte Wort.«
    »Verfolgt Sie ?« stieß ich aus.
    »Ja«, stimmte er hastig zu, wieder erschreckt vom Klang meiner Stimme, aber anscheinend ohne die Betonung zu bemerken. »Ich weiß, es klingt absurd, aber ich kann es nicht anders beschreiben. Er – nun, er steht nachts vor meinem Haus – in der Straße.« Er warf mir einen Seitenblick zu, um sich meiner Reaktion zu versichern. Zu seiner Beruhigung entdeckte er keine Anzeichen für einen bevorstehenden Wutausbruch und fuhr fort.
    »Er steht nachts vor meinem Haus – nicht jede Nacht natürlich, aber mehrmals jede Woche. Er folgt mir! Manchmal spürt er mir tagelang nach, auf Schritt und Tritt. Es scheint ihn nicht zu stören, daß ich es weiß. Oh, und er schickt mir Briefe«, fügte er hinzu, als falle es ihm soeben erst ein.
    »Briefe?«
    »Nun ja, eigentlich sind es Telegramme; es sind immer nur ein bis zwei Sätze. ›Moriarty, nimm dich in acht; deine Tage sind gezählt‹ und dergleichen. Und er hat den Schulleiter meinetwegen aufgesucht.«
    »Den Schulleiter? Was für einen Schulleiter?«
    »Direktor Brice-Jones, Leiter der Roylott-Schule, an der ich den Posten des Mathematiklehrers bekleide.« Es handelte sich um eine der weniger bekannten Privatschulen im Westen von London. »Der Direktor ließ mich kommen und bat mich, eine Erklärung zu Mr. Holmes’ Unterstellungen abzugeben.«
    »Und was haben Sie ihm gesagt?«
    »Ich sagte, ich könnte keine abgeben, da ich nicht wisse, um welche Unterstellungen es sich handele. Also beschrieb er sie.« Moriarty wand sich in seinem Sessel und verdrehte seine blauen Augen in meine Richtung. »Dr. Watson, Ihr Freund ist davon überzeugt, ich sei eine Art« – er suchte nach Worten – »eine Art Meister des Verbrechens. Und zwar der übelsten Sorte«, fügte er mit einem hilflosen Achselzucken hinzu und warf die Hände hoch. »Ich frage Sie, Herr Doktor: Allen Ernstes, können Sie in mir auch nur im entferntesten Merkmale entdecken, die ein solches Individuum auszeichnen?«
    Es schien mir beinahe sinnlos, zu bestätigen, daß dies unmöglich war.
    »Aber was kann ich denn tun?« klagte der kleine Mann. »Ich weiß, Ihr Freund ist ein guter Mann – ganz England lobt und preist ihn. Aber in meinem Fall ist er einem fürchterlichen Irrtum verfallen, und ich bin das Opfer.«
    Ich saß wortlos, tief in Gedanken versunken.
    Das Klagen hielt an: »Ich bin der letzte, Doktor, der ihn in Verlegenheit bringen möchte, aber ich bin am Ende. Wenn nicht irgend etwas geschieht, um
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