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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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Fürsorge. Doch diesmal hatte Gevatter Tod, wie aus einer Laune heraus, ohne jede Vorwarnung zugeschlagen. Soldaten, die in ein Gefecht ziehen, tun dies im Bewusstsein, verwundet oder getötet zu werden. Ein Kranker, der in ein Spital eingeliefert wird, muss stets damit rechnen, es mit den Füßen zuerst wieder zu verlassen. Eine falsch dosierte Arznei, ein ärztlicher Kunstfehler oder eine allergische Reaktion kommen immerwieder vor. Aber wer auf einem Bahnsteig nach einem Fernzug Ausschau hält, darf sich eigentlich in Sicherheit wähnen.
    Instinktiv, ohne zu wissen warum und weshalb, war ich fest davon überzeugt, dass der heimtückische Schuss keinesfalls der armen Seele gegolten hatte, die nun vor mir zusammengekrümmt im Schmutz der Bahnhofshalle lag. Ich war wie paralysiert und überlegte krampfhaft, was ich nur tun sollte. Am liebsten hätte ich dem feigen Mörder voller Verachtung meinen Hut ins Gesicht geschleudert.
    Wieder rettete mir Holmes mein Leben. Er kehrte aus der sicheren Deckung zurück. Mit festem Griff zerrte er mich hinter den Verkaufsstand, in dem diverse Rauchwaren feilgeboten wurden. Im fragilen Schutz des gläsernen Pavillons warfen wir uns auf den staubigen Boden.
    Wir hätten keinen Moment länger zögern dürfen. Direkt über unseren Köpfen zersplitterte eine weitere Scheibe. Bei mir als altem Militär spulte sich im Geiste ganz automatisch eine Gedankenkette ab: großes Kaliber, die Waffe wurde aus einer Entfernung von etwa hundert Yards abgefeuert, schnelle Schussfolge, aber zu langsam für eine offene Visierung, kein hörbarer Knall.
    »Du hast völlig recht, mein lieber Watson«, meinte Holmes, der offensichtlich selbst in dieser misslichen Lage noch die Muße fand, meine Gedanken zu lesen. »Ein Scharfschütze hat uns aufs Korn genommen. Er steckt dort drüben auf einem der Baugerüste in der Osthalle und verwendet eines dieser kreuzgefährlichen Luftgewehre mit Zielfernrohr. Falls es – wie ich aufgrund der ungeheuerlichen Durchschlagskraft vermute – eine Girandoni-Windbüchse [ 2 ] sein sollte, stehen ihm schätzungsweise noch sechzehn weitere Kugeln zur Verfügung, ehe ihm die Puste ausgeht. Es wird für uns also noch eine Weile höchst ungemütlich bleiben.«
    Vor und neben dem Pavillon hatte sich inzwischen ein Menschenauflauf gebildet. Die erregte, aber ahnungslose Menge umstand wie gebannt die Ermordete und tat das, was die Leute in solchen Momenten stets zu tun pflegen: nichts Vernünftiges. Aber es gibt nichts Schlechtes ohne etwas Gutes. Je enger die Ansammlung der Schaulustigen zusammenrückte, umso mehr versperrte sie dem Attentäter die Sicht auf uns. Jemand rief in völliger Verkennung der Lage nach einem Arzt. Eine hysterische Frauenstimme verlangte lauthals nach der Polizei.
    »Sind Sie durch den Steinwurf verletzt worden? Brauchen Sie Beistand?«, fragte uns ein Mann. Seine schwarzen Lackstiefel kamen in mein Blickfeld.
    Ich schaute auf. Vor uns stand der Kioskbesitzer. Zu dem glänzenden Schuhwerk trug er eine Art hellbraune Pagenuniform, die sich eng über seinen gewaltigen Schmerbauch spannte.
    »Vielen Dank der Nachfrage, mein Herr, wir sind glücklicherweise unversehrt geblieben. Ganz im Gegensatz zu dem armen Weibsbild, welches dort drüben, direkt vor Ihrem Laden, nun tot in seinem Blute liegt«, antwortete Holmes. Er erhob sich vorsichtig und klopfte sich in gebückter Haltung den Schmutz von der Kleidung ab. »Aber Sie irren sich gewaltig. Die Scheiben wurden Ihnen nicht von mutwilligen Knaben eingeworfen, sondern von einem Banditen in mörderischer Absicht mit dem Gewehr zerschossen. Nun gilt es, weiteres Verderben von uns allen abzuwenden. Dazu müssen wir schleunigst den Attentäter stellen. Ich habe ihn bereits lokalisiert. Er feuert von der Baustelle aus, dort drüben in der Osthalle, in unsere Richtung. Kurz gesagt, wir benötigen Ihre Hilfe, guter Mann. Sie sind ein ehemaliger Polizeibeamter. Als ein solcher verstehen Sie sich bestensdarauf, in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich habe doch die Ehre, mit Herrn Carl Ahlersmeyer, dem Geschäftsinhaber persönlich, zu sprechen?«
    »In der Tat, mein Herr, so ist es und so soll es bleiben«, erwiderte der Händler. »Sie kennen mich sicherlich von meiner einstigen Profession her. Über dreißig Jahre lang habe ich als Schutzmann und Gendarm König, Kaiser, Gott und Vaterland treu gedient. Nun versuche ich mir als freier Unternehmer meine bescheidene Pension aufzubessern. Ich
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