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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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verkehrten die ersten Züge in der Westhalle. Dort waren wir auch mit dem Eisenbahnzug aus Berlin angekommen. Die Fertigstellung der Osthalle hingegen würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. So viel konnte selbst ich als Laie im Baugewerbe erkennen.
    Holmes besaß einen fantastischen Orientierungssinn. Ohne zu zögern folgte er diversen Abzweigungen und führte unsauf direktem Weg zur Stahltür der Unterführung. Der Schlüssel passte. Doch die Pforte ließ sich nur einen Fingerbreit öffnen. Wir drückten mit aller Macht dagegen. Wütende Protestrufe von der anderen Seite waren die Folge. Ein fauliger Gestank nach Fusel und ungewaschenen Leibern sickerte durch die Ritze und stieg uns unangenehm in die Nasen.
    Stück für Stück gab die Tür langsam nach. Holmes zwängte sich als Erster durch den schmalen Spalt. Ich folgte ihm nach. Im trüben Halbdunkel einiger blakender Öllampen fiel es mir schwer, mich zu orientieren. Ein furchtbarer Fäulnisgeruch raubte mir fast den Atem. Dann erkannte ich die Ursache. Wir standen mitten in einem Berberlager. Ein gutes Dutzend Landstreicher beiderlei Geschlechts hatte am Boden sein Lumpenquartier aufgeschlagen. Schmutzige Krallenhände fassten nach meinen Beinkleidern. Weiße Augäpfel leuchteten in dreckverkrusteten Gesichtern. Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und schwenkte ihn über meinem Kopf. Das bedrohliche Funkeln des vernickelten Laufs zeigte sofort seine Wirkung.
    Einer der Halunken schrie: »Greifer in Zivil!«
    Wie die Jungen in einem Mäusenest stoben die Tippelbrüder in alle Richtungen davon, wobei sie Berge von schmierigem Abfall zurückließen. Wir konnten unseren Weg ungehindert fortsetzen.
    Hinter der nächsten Abbiegung kehrte Normalität ein. Unsere geschundenen Lungen saugten dankbar die frische Luft ein. Wir passierten mehrere Treppenaufgänge zu den Bahnsteigen. Einige wenige Reisende kamen uns entgegen oder liefen in dieselbe Richtung wie wir. Am Ende der Westhalle versperrte uns eine grob gezimmerte Brettertür den Übergang zur Osthalle. Die Pforte war fest verschlossen.
    Holmes zog ein ledernes Futteral aus einer seiner diversen Innentaschen und nahm einen Dietrich passender Größe zur Hand. In weniger als einer Sekunde hatte er das einfache Hakenschloss geöffnet. Hinter einem Sandhaufen kletterten wir an einer Leiter nach oben. Die Baustelle wirkte verlassen. Kein einziger Arbeiter ließ sich weit und breit sehen. Das war gut und schlecht zugleich: Wir mussten keine Störung befürchten, liefen aber Gefahr, von dem Verbrecher zuerst bemerkt und sofort unter Beschuss genommen zu werden. Aus weiter Entfernung drang der Krach von Dampframmen und Drucklufthämmern an unsere Ohren.
    Vor uns erhob sich ein mit Planen bespanntes Baugerüst. Es stand an der Scheide zwischen West-und Osthalle und diente offensichtlich als Sicht-und Lärmschutz. Von nun an war äußerste Vorsicht geboten. Irgendwo über uns hatte sich der Scharfschütze postiert. Wir stiegen hinauf zur ersten Etage. Holmes pirschte sich vorneweg. Ich folgte ihm dicht bei dicht mit dem schussbereiten Revolver in der rechten Hand und sicherte dabei nach allen Seiten.
    Links und rechts war nichts zu sehen. Wir nahmen die nächste Leiter. Holmes deutete wortlos auf einen Stapel aufgeschichteter Backsteine. Dahinter ragte ein Gewehrlauf in die Luft. Wir schlichen uns näher und näher. Die Bretter knackten unter unseren Füßen. Immer wieder verharrten wir für einen Moment, aber die Flinte bewegte sich keinen Deut. Offenbar konzentrierte sich der Attentäter ganz und gar auf den nächsten Schuss.
    Schließlich sprang ich mit dem Revolver in der ausgestreckten Hand um den Steinhaufen herum. Doch der Vogel war längst ausgeflogen. Den Boden bedeckte eine grobe Rosshaardecke. Darauf lagen eine Wasserflasche, ein KantenBrot – und die Windbüchse. Von dem Schützen selbst war weit und breit nichts mehr zu sehen.
    Holmes stieß einen leisen Fluch aus und warf sich herum zum rückwärtigen Rand des Gerüsts, von wo aus sich ein Großteil der Baustelle überblicken ließ. Er klammerte sich an die Brüstung, beugte sich so weit es ging hinüber und ließ seinen Blick umherschweifen. »Dort hinten rennt der Schurke«, schrie er. »Watson, schieß auf seine Beine! Wir müssen ihn unbedingt erwischen.« Er deutete auf eine Gestalt im Maurerkostüm, die mit ihren Holzpantinen eilig klapperte und die gerade um die nächste Ecke verschwinden wollte.
    Ich zögerte keine Sekunde. Der Mann war etwa
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