Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shanera (German Edition)

Shanera (German Edition)

Titel: Shanera (German Edition)
Autoren: Thilo Schön
Vom Netzwerk:
Morgenrituale. Als sie zum Leiter der Anwärter gerufen wurde, war sie nicht überrascht.
    Sie verbeugte sich vor Ketarnas mit dem Zeichen der Ehrerbietung, den symbolisch gekreuzten Handgelenken. Als sie aufblickte, sah sie, dass zwei der Dorfältesten, der Leiter des Dorfes und der Tempelälteste ebenfalls anwesend waren.
    „Anwärterin Zela“, begann Ketarnas, „Du hast sicher gehört, was passiert ist. Wusstest Du etwas davon, dass Shanera unsere Gemeinschaft verlassen wollte?“
    „Ich wusste nichts davon, Leiter Ketarnas. Shanera war sicher klar, dass ich sonst versucht hätte, sie aufzuhalten.“
    „Ich hoffe, dass Du die Wahrheit sagst. Du weißt sicher, dass Du uns einen solchen Plan auf jeden Fall hättest melden müssen?“
    „Ja, Leiter. Es tut mir leid, dass dies passiert ist. Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.“ Zela hatte beschlossen, sich bußfertig zu zeigen. Sie wollte nicht den Zorn der Älteren auf sich lenken.
    „Kannst Du Dir vorstellen, wo sie hin will? Allzu viele Möglichkeiten gibt es ja schließlich nicht.“
    Das war nun eine problematische Frage. Es gab tatsächlich nur wenige Möglichkeiten: Die wenigen Nachbardörfer, das Hochplateau oder der an dieser Stelle des Felsens kaum gangbare Weg in die Tiefe des Zentrallandes. Dieses Risiko würde Shanera wohl kaum eingehen, und was sollte sie in den Nachbardörfern? Diese würden ihr keine Zuflucht bieten und sahen auch nicht viel anders aus als dieses Dorf. Blieb also nur das Hochplateau. Aber so sehr Shanera sie auch enttäuscht hatte, sie hatte sicher geglaubt, gute Gründe für ihr Vorgehen zu haben. Zela wollte ihrer Freundin keinen Trupp Wächter auf den Hals hetzen.
    „Sie hat nie etwas davon gesagt, dass sie zu irgendeinem bestimmten Ort wollte.“, antwortete sie ausweichend.
    „Nun gut, wie Du meinst. Zela, Du bist für heute Morgen von Deinen Pflichten als Anwärterin entbunden. Du wirst Dich im Dorf umhören, ob jemand etwas gesehen hat und nach Spuren suchen, die sie hinterlassen hat. Vielleicht fällt Dir ja auch selbst noch etwas ein, was Du bisher vergessen hast, uns zu erzählen. Du berichtest uns in zwei Sandläufen von jetzt an. Dann werden wir sehen, was wir weiter unternehmen. Wir haben jedenfalls nicht die Zeit, Suchtrupps in alle Richtungen zu schicken. Wir werden aber auch nicht dulden, dass sich jemand so einfach aus der Verantwortung stiehlt. Geh jetzt.“
    Zela verbeugte sich erneut und verließ unglücklich den Raum. Sie hatte es befürchtet. Man würde ihr Ärger machen, wenn man Shanera nicht mehr habhaft werden konnte. Auch schien man ihr nicht zu glauben, dass sie nichts von der Flucht gewusst hatte.
    Was sollte sie jetzt tun? Sie machte sich auf den Weg zu Shaneras Gemeinschaftskuppel, rechnete aber nicht damit, dort eine Lösung zu finden.
    +
    Der Kletterpfad endete auf einem vorspringenden Fels, einem frei ausgesetzten Punkt mit dem besten Blick in diesem Abschnitt der Großen Wand.
    Shanera lehnte mit dem Rücken an der Wand und schaute zum südlichen Horizont. Sie konnte nichts als Wolken und Himmel sehen. Aus dieser Perspektive trübte kein Stück Fels oder Erde den freien Ausblick in die Weite des Himmels. Das Zentralland war unsichtbar unter den Wolken.
    Wenn man eine Weile so stehen blieb und die Wolken unter einem hinwegzogen, war es fast wie Fliegen. So mussten sich die großen Vögel fühlen, wenn sie durch die Lüfte glitten. Shanera genoss den Augenblick. Sie versuchte, ihn in ihrem Gedächtnis zu bewahren, um später darüber zu schreiben.
    Nach einem letzten Schluck aus dem Wasserschlauch begann sie, dem nun erreichten Pfad zu folgen. Bis zu dem großen Riss war es nicht mehr allzu weit und dort konnte sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem machen.
    Die Wand und der Weg begannen sich langsam nach Norden zu biegen und dann stand sie an der Kante des Risses. Die andere Seite der riesigen Schlucht lag mit ihrem äußeren Teil gut im Licht. Wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie die Kuppeln eines Dorfes an der gegenüberliegenden Kante, etliche hundert Schritt unter ihr, als kleine Punkte sehen. Einige Bauten lagen außen an der Wand, ein paar innen an der Seite des Risses.
    Nach Norden hin wurde die Schlucht langsam schmaler. Wenn sie den halben Weg nach oben zurück gelegt hätte, würde auch ihr Boden in Sicht kommen, wenig mehr als eine steile und gefährliche Geröllhalde. Das obere Ende der Wand und der Rissschlucht, der Übergang zum Hochplateau, war von diesem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher