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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim
Autoren: Kathrin Lange
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zuckende Schatten warf. Zwei Fliegen krabbelten über das Holz, vollführten Kreise und Bögen, entfernten sich voneinander und trafen sich erneut, eine jede ihrer Bewegungen rasch und sicher und kopfunter. Eine uralte geheimnisvolle Schrift, die sie auf den Balken malten. Feines, flirrendes Leuchten umgab sie bei jeder ihrer Bewegungen.
    Johannes blinzelte. Irgendwo in der Ferne schlug eine Glocke die Nachtstunde, doch es war noch Zeit bis zum Garaus, jenem Läuten, das den Aufgang der Sonne und damit den Beginn des Tages ankündigte.
    Die Schatten in den Ecken und Winkeln der Zelle wollten näher rücken, drohten Johannes einzuhüllen. Seine Augen brannten. Er schloss sie und überließ sich den flimmernden Mustern aus Farben und Licht hinter seinen Lidern. Erst als er es nicht mehr aushielt, öffnete er die Augen wieder. Er war ein grüblerischer Mensch, und es kam häufig vor, dass er nächtens stundenlang wach lag und Probleme wälzte, die sich bei Tageslicht als völlig belanglos herausstellten. Heute hatte er allerdings wirklich etwas zum Nachdenken.
    Die Inquisitoren.
    Aus Italien waren sie gekommen, um mit Claudius von Kirchschlag, dem Prior des Klosters, über den Inhalt eines neuen Buches zu disputieren, das vor vier Jahren in den Druck gegangen war.
    Johannes rieb sich mit dem Ärmel seiner Kutte über Gesicht und Hals. War Prior Claudius nicht nach dem Gespräch mit den vier Männern auffallend nachdenklich gewesen?
    Ruckartig setzte Johannes sich auf. Ein Schrei hallte durch die Gänge und Gewölbe des Klosters: langgezogen und schrill. So voller Qual, dass er nichts Menschliches an sich hatte.
    Johannes’ Brustkorb zog sich zusammen, als sei er unvermittelt in eisiges Wasser gefallen. Einen Lidschlag lang vertiefte sich die unheimliche Stille noch. Johannes bekam keine Luft mehr, und in seinen Ohren begann es zu klingeln.
    Durch das Geräusch hindurch hörte er, wie die Türen der anderen Mönchszellen aufgerissen und auf dem Gang des Dormitoriums hastige Schritte laut wurden. Stimmen erklangen, besorgte Fragen und ängstliches Gemurmel mischten sich mit geflüsterten Klagen.
    »Was war das?«
    »Es kam aus dem Gästehaus!«
    »Unheimlich, dieser Schrei, wie ein Ruf aus der Hölle!«
    Johannes quälte sich auf die Beine. Seine Knie zitterten. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu taumeln. Wurde er etwa krank? Er durchforstete sein Gedächtnis. Gab es Fälle von Pest in der Gegend? Er wusste es nicht.
    Tief holte er Luft, dann stieß er sich von der Wand ab und durchquerte seine Zelle. Mit jedem Schritt, den er tat, ging es ihm ein wenig besser, und als er die Hand nach dem Riegel ausstreckte, da hatte er sich wieder in der Gewalt. Er öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus.
    Prior Claudius, ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit schwarzen Haaren, die an den Schläfen zu ergrauen begannen, stand direkt vor ihm.
    Das Gemurmel der anderen Brüder schmerzte in Johannes’ Ohren.
    »Ruhe!«, befahl der Prior.
    Die Mönche verstummten.
    Johannes blickte der Reihe nach in ihre Mienen. Alle Männer waren bleich, und auf ein paar Gesichtern stand Schweiß; flackernde Augenpaare starrten Johannes an, als erwarteten sie von ihm eine Antwort auf all ihre Fragen.
    »Wer hat da so furchtbar geschrien?«, murmelte er. Seine Zunge lag dick und aufgequollen in seinem Mund, unfähig, die Silben deutlich zu formen.
    Neuerliches Gemurmel scholl ihm entgegen.
    Prior Claudius beendete es mit einer harschen Handbewegung, die aussah wie ein Fausthieb. »Zum Gästehaus!«, befahl er.Seite an Seite mit einem der Mönche, einem kleingewachsenen, kugelrunden Mann namens Friedrich, lief Johannes hinter dem Prior und den anderen her, hinaus aus dem Dormitorium, den Kreuzgang entlang und vorbei an den dort aufgestellten Grabplatten von Männern, die schon vor Hunderten von Jahren gestorben waren. Dann eine hölzerne Treppe hinauf, auf der ihre Schritte dumpf hallten, und im oberen Stockwerk zurück ins Schlafhaus, in jenen Teil, in dem Gäste des Klosters untergebracht wurden.
    »Ich habe die halbe Nacht wach gelegen, Ihr auch? Es herrscht eine seltsame Stimmung im Kloster, nicht wahr? Und wie unirdisch dieser Schrei geklungen hat! Ich sage Euch, da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu«, plapperte Bruder Friedrich auf Johannes ein. »Habt Ihr mit angehört, worum es bei diesem Besuch geht? Im Kloster kursiert das Gerücht, dass Rom plant, neue Wege in der Hexenverfolgung zu gehen.« Es war deutlich, dass er
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