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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana
Autoren: Thomas Lehr
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aufgebrochen war um radikal im späten 20. Jahrhundert zu leben ein Großstadtleben zu führen aus dem sie mich gelockt hatte (Sabrinas wegen und in der Vorspiegelung einer Familienidylle die sie selbst energischer als jeder andere zu glauben versuchte) um mich dann (kurz nach unserer Rückkehr aus Paris nach jener unseligen unsinnigen Reise zu dritt) in den Hügeln von West-Massachusetts sitzen zu lassen zu versenken wie in der Schlammzeit der
    mud season
    in der eine mit Ästen und Wurzeln gespickte graue Pampe die Wälder füllt als gäre etwas darin (der schmutzige Gedankenbrei einer künftigen Katastrophe)
    nach dem eisigen Frühling in Paris sank ich ins 18. Jahrhundert zurück es war Zufall nicht Amandas nicht meine Absicht ich folgte dem Sarg meines vierundsechzig Jahre zuvor in Wien geborenen Kollegen Sigi Ramsauer eines famosen Klopstock-Goethe-Schiller-Herder-Hegel-Hölderlin-Mannes der nun sanglos dahinging in einem gemeinen beerdigungsüblichen Nieselregen der gegen meine honigfarben getönte Glasglocke (die Erweiterung meiner Sonnenbrille um meinen gesamten Körper herum den Skaphander aus Restalkohol und Guten-Morgen-Drink) tröpfelte ohne mich weiter zu stören ohne mich wirklich erreichen zu können hinter meiner Schutzhülle die aber dann doch
    durchbrochen wurde so unmittelbar als hätte sie nie existiert und als würde ich nur dämlich angetrunken hinter einer Sonnenbrille meine geschwollenen Tränensäcke verstecken in schnöder Trauer-Camouflage
    die feiste kräftige Hand des Dekans der UMass ging einfach hindurch(ich sah plötzlich die feinen Regentröpfchen auf meinem eigenen Anzug wie die Haut einer schwarzen Kobra) das rosige Gesicht glänzte vor mir auf er verstand sofort alles was willst du ihm schon vormachen seine Urahnen kauften tonnenweise Melasse auf den Westindischen Inseln brannten Rum daraus den sie nach Afrika gegen Sklaven verkauften die sie wiederum gegen Melasse tauschten der
    Dekan lächelte im Regen (im Auftrag des Toten wie ich später erfuhr)
    er sprach von den Fußstapfen die sich mit gelbem Wasser füllten während der Schlamm unter unseren Absätzen schmatzte wie in den Straßen des 18. Jahrhunderts in das ich mit seinem Händedruck versank als wäre unterhalb des Schlamms aus Whiskey und Selbstmitleid eine Schicht oder Sphäre einer blässeren ruhigeren sanften in gedämpften Farbtönen gehaltenen mit schwächeren Stimmen flüsternden Welt geisterhaft leichter Bewegungen die
    Vergangenheit
    die mir bislang regungslos und unzugänglich erschienen war jenes noch friedliche schwache noch träumende noch nachdenkliche Deutschland der Klein- und Kleinststaaten leidlich gequetscht zwischen dem zynischen schwulen preußischen Stiefel und den herzlichhochkatholischen Eisentitten der habsburgerischen Mutter jenes pfeifenrauchende Besinnungsdeutschland das erst mit dem harten Fall und Schnitt der Guillotine erwachen musste wurde für mich zu einem überschaubaren Expeditionsraum ich fand mich indem ich immer mehr darin verlorenging und etwas von der knorrigen Ruhe des alten toten Sigi Ramsauer überkam mich bisweilen eine Art Frühverholzung aus der ich langsam wieder Blätter trieb
    die Vergangenheit ist erstaunlich
    gesund
    sagte der Dekan und strahlte als hätte sich gleich auch das Deutschland Wilhelm des II. und gar noch Hitlers und Goebbels’ zurückverwandelt in seine freundliche verworrene genialische Pubertät
    nach den Jahren am Amherst College half mir die alltägliche Gegenwart der UMass ganz in die Wirklichkeit zurück eine große fette gewöhnliche Straßenkatze die auf einem flachen Hügel liegt einige massive Bürotürme ein trauriger künstlicher See die alte Kapelle das betonklotzige Fine Arts Center und die frischen Durchblicke auf die Wälder der Umgebung ich las
    über Hölderlin und Goethe reiste nach Frankfurt und Weimar publizierte wieder erhielt Einladungen zu Vorträgen schrieb nicht Goethes Lieben sondern Goethe lieben auf Luisas Vorschlag hin
    denk nicht über die Frauen hinweg sondern aus ihnen heraus gib ihnen deine Stimme einmal wolltest du doch Schriftsteller werden wirf die Fußnoten in den Papierkorb und sprich mit mir wenn du glaubst du bräuchtest Auskünfte vom anderen Planeten auf deinem Kopfkissen und so begann alles neu das Spiel mit
    den Frauen dem Leben der Zeit
    gegen die Scham oder Beschämung weibliche Stimmen anzunehmen gegen die mächtige Hypnose des 20. Jahrhunderts gegen die Furcht vor der freien ungeschützten narrativen
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